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Elbrus - Eine lang ersehnte Reise.

Aktualisiert: 9. Jan. 2023


Teil 1: Eine Anreise voller Erwartungen, Widrigkeiten und Wendungen.

Ich sitze bereits seit über sechzehn Stunden im Bus von Istanbul nach Erzurum, der östlichen Hauptstadt der Türkei, welche fast 2000 Meter über dem Meeresspiegel auf einem Hochplateau in Ostanatolien liegt. Als ich morgens um 08:00 Uhr mitten auf einer endlos langen Straße den Bus verlasse, erblicke ich eine extrem weitläufige und karge Ebene. Die soeben noch verspürte Müdigkeit in Geist und Glieder wird von der plötzlichen Frische eines frühen Herbsttages verdrängt und ich sehe fast reumütig dem Bus nach, der sich langsam aber geräuschvoll von mir entfernt. Da außer mir niemand ausgestiegen ist, stehe ich nun alleine hier. Es ist empfindlich kalt und das völlige Fehlen an Menschen, Gebäuden, Verkehr und Betriebsamkeit scheint dies noch zu verstärken. Um mich ergießt sich eine erstaunlich karge, weitläufige Ebene in erdigen Farbtönen. Die Luft ist klar und trocken. In der Ferne liegt die Stadt noch unter einem leichten, hellgrauen Morgendunst und über ihr thronen die alten Dreitausender - nebeneinander aufgereiht wie an einer Perlenschnur und in erhabenem Weiß. Ich genieße diesen Anblick und die Stille um mich und werde ganz ruhig.

Ich schultere meinen Rucksack und hänge meine zweite große Reisetasche mit meiner Gletscherausrüstung vor meinen Bauch und laufe schweren Schrittes die Hauptstraße entlang zur Busstation, welche außerhalb der Stadt liegt. Von hier erhoffe ich mir, eine weitere Verbindung nach Tiflis in Georgien zu finden, um dem Kaukasus Gebirge noch ein Stück näher zu kommen. An den Schaltern erkundige ich mich nach weiteren Verbindungen, aber leider gibt es keine direkte Verbindung nach Tiflis, sondern nur eine Verbindung nach Batumi, einer bekannten Urlaubs- und Küstenstadt im Westen des Landes, die direkt am Schwarzen Meer gelegen ist. Wie immer muss ich mit harten Bandagen verhandeln, um den Touristenbonus zu vermeiden, damit ich den Preis der Locals bezahlen kann. Nach einer kurzen Wartezeit nehme ich den Bus nach Batumi und von Batumi weiter nach Tiflis. Erneut sitze ich über vierzehn Stunden im Bus und sehe wie sich die Berge links und rechts des Weges mit ihren hohen steilen Felswänden auftürmen. Mein Herz schlägt höher bei dem Anblick und meine Vorfreude steigt, denn ich will endlich wieder dort oben wandern und über Felsen klettern, die frische, kühle Luft einatmen und dabei über die Abgründe und Gipfel blicken. Ich überquere die Türkisch-Georgische Grenze und steige in Batumi um und fahre weiter nach Tiflis.

Es ist bereits nachts um 01:00 Uhr, als ich am Busbahnhof in Tiflis ankomme. Wie erwartet gibt es um diese Uhrzeit keine weitere Verbindung hinüber über den Gebirgspass nach Russland, genauer gesagt nach Wladikawkas über den Grenzübergang Verkhny Lars. Glücklicherweise finde ich direkt in der Nähe eine Übernachtungsmöglichkeit, denn ich bin extrem müde von der langen Reise, obwohl ich körperlich kaum aktiv gewesen bin. Ich konnte die etwas mürrische Dame an der Rezeption dazu überreden, mir einen extrem guten Preis für die Übernachtung zu geben, da ich mitten in der Nacht auftauche und ihr zusage morgens um 07:00 Uhr wieder weg zu sein. Sie registriert mich nicht im System, steckt sich das Geld nichtssagend in die eigene Tasche, zeigt mir mein Zimmer und gibt mir zu verstehen: "Nicht länger als morgen um 07:00 Uhr”. Es ist eine Win-Win Situation für uns beide, ich bekomme eine günstige Übernachtung und sie kann ihr niedriges Gehalt aufbessern. Ich versichere ihr, dass ich morgen früh verschwunden sein werde und schließe die Zimmertüre.

Da meine Socken und meine Füße gefühlt zum Himmel stinken, als ich die Schuhe ausziehe, beschließe ich zu später Stunde, noch unter die Dusche zu springen und meine Socken zu waschen, bevor ich zu Bett gehe.

Der Wecker geht nach fünf Stunden um 06:30 Uhr, ich ziehe mich leise an, schnappe mein Gepäck und verlasse das Hotel sehr früh, wie vereinbart. Am Busbahnhof wartet bereits ein Kleinbus, der mich für 35 Lari, umgerechnet etwa 12 Euro über die Grenze nach Russland bringt. Es ist kühl und verregnet an diesem Morgen, dem 18. Oktober 2022 als ich mich in den Bus setze.

Viele junge Männer und zwei Frauen sitzen mit mir im Bus und man vernimmt aufgeregte und besorgte Gespräche von Handytelefonaten oder Frauen und Mütter, die ihre Männer und Söhne in Richtung Russland verabschieden. Auch ich habe ein leicht mulmiges Gefühl an diesem Morgen, denn Russland befindet sich derzeit im Krieg mit der Ukraine und die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist äußerst angespannt. Natürlich bin ich im Urvertrauen, dass mir nichts widerfahren wird und dass der russische Grenzübergang ohne Probleme verlaufen sollte, denn es macht überhaupt keinen Sinn einen Bergsteiger und Touristen wie mich zu inhaftieren oder Ähnliches. Darüber hinaus hat mir die russische Botschaft das Visum erteilt und ich sehe keinerlei Grund, warum mir die Grenzbeamten und Bewohner des Kaukasus aufgrund der politischen Lage feindlich gesinnt sein sollten. Der russische Staat hat meiner Meinung nach kein rationales Interesse daran, die Beziehungen zu anderen Staaten durch Vorfälle mit Touristen wie mir weiter zu verschlechtern. Dennoch ist mir auch bewusst, dass in solchen angespannten Ausnahmesituationen alles möglich ist, weshalb ich auch nicht völlig naiv und blauäugig an die Sache heran gehe. Als erfahrener Bergsteiger wägt man jederzeit sämtliche Risiken und Eventualitäten in Kopf und Bauch ab, es ist quasi ein permanenter Risikoevaulierungsprozess, der der eigenen Sicherheit und dem Überleben dient und sich niemals abstellen lässt. Wir führen quasi allgegenwärtig eine Neubewertung der Situation durch, lange bevor die Tour überhaupt beginnt, eines Abends, wenn unser Verstand bei der Recherche einer Idee, einem Vorhaben oder dem Anblick eines Bergs “infiziert” wird, bis hin zum allerletzten Moment, wenn wir von einem erreichten Gipfel wieder absteigen und uns am Ende einer Tour in Sicherheit wähnen. Das heißt übrigens nicht, dass wir in permanenter Angst leben oder die Dinge zu sehr im Kopf zerdenken, nein ganz im Gegenteil, es befreit uns eher von der Angst und steigert unsere Zuversicht, denn wir tragen teils unbewusst permanent Informationen zusammen, um uns ein möglichst reales Bild der Situation und Gefahren zu machen. Auf Basis dieser Risiken entscheiden wir uns aktiv für die Gefahren und Herausforderungen und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, gestehen wir uns auch ein, welche Faktoren wir nicht beeinflussen können und erkennen demütig an, wann wir der Willkür der Natur und des Berges ausgesetzt sind und wie wir in diesen Momenten aufmerksam die Signale deuten müssen. Daraus resultiert oftmals eine positive Aufgeregtheit, die dennoch mit einer gewissen Nervosität einhergeht, wenn die Herausforderung sehr groß erscheint. Freunde und Bekannte und vor allem meine Familie sind im Gegensatz zu mir extrem beunruhigt und besorgt, denn sie befürchten aufgrund der Berichterstattung das Schlimmste, einige rieten mir sogar von diesem Vorhaben ab und versuchten mich zum Umdenken zu bewegen und, dass ich diese Reise und somit die Besteigung des Elbrus verschieben solle. Auch die Tatsache, dass ich mal wieder solo bei winterlichen Verhältnissen am höchsten Berg Russlands und dem Kaukasus unterwegs bin, beunruhigt viele von ihnen. Wer mich jedoch etwas genauer kennt weiß unlängst, dass solche Bedenken, Einwände oder Ängste bei mir nur sehr selten dazu führen, ein von mir in den Kopf gesetztes Vorhaben abzubrechen. Die Argumente und Umstände müssen aus meiner Warte sehr logisch, rational und äußerst gewichtig sein, damit ich mich von meinem Ziel abbringen lasse.

Die Fahrt zum Grenzübergang dauert etwa drei Stunden und sobald wir Tiflis verlassen, geht es sehr schnell über viele Serpentinen und gewundene Wege steil bergauf. An der georgischen Grenze müssen wir alle den Bus verlassen und mit unserem Gepäck die Grenze zu Fuß überqueren. Am Schalter mustert mich die Grenzbeamtin etwas ungläubig, als sie meinen deutschen Reisepass mit dem russischen Visum inspiziert. Sie führt zwei Telefonate mit ihrem Vorgesetzten und lässt mich schließlich doch etwas widerwillig das Land in Richtung Russland verlassen. Anscheinend machte sich auch Sie Sorgen um mich. Dieser Grenzübergang ist die Hauptfluchtroute vieler junger russischer Männer, die seit der Teilmobilmachung das Land nach Georgien verlassen haben, um nicht zum Kriegsdienst an die Front eingezogen zu werden. Ich finde einen letzten georgischen Geldautomaten und nutze die Gelegenheit, 200$ Bargeld abzuheben, denn durch die vielen Sanktionen ist Russland vom Großteil des globalen Zahlungssystems abgeschnitten, wodurch meine Bank- und Kreditkarten dort nun nicht mehr funktionieren werden. Effektiv heißt das, dass ich lediglich meine Euros und Dollar vor Ort in Rubel umtauschen kann und hoffen muss, dass mir mein Bargeld so lange reicht, bis ich das Land wieder verlasse.

Am russischen Grenzübergang Verkhny Lars angekommen warte ich gefühlt eine Ewigkeit in der Schlange, bis ich endlich vor dem Schalter des Grenzbeamten stehe. Er schaut mich und meinen Pass etwas ungläubig an und greift zum Hörer, denn auch er befragt seinen Vorgesetzten, wie er mit mir verfahren soll. Nach zwei bis drei Telefonaten legt er meinen Reisepass bei sich gesondert beiseite und signalisiert mir, dass ich bitte zur Seite treten und warten soll. Ich stelle mich etwas irritiert auf die Seite, wo bereits ein anderer “aussortierter” Grenzübergänger mit ukrainischem Pass wartet. Der Grenzbeamte fertigt die restlichen Reisenden in seiner Schlange ab, bis nur noch wir beide übrig sind. Er greift erneut zum Hörer und ruft seinen Vorgesetzten zu sich. Sein Vorgesetzter kommt kurz darauf zu uns und mustert den Ukrainer und den dunkelhäutigen und etwas exotisch aussehenden deutschen Bergsteiger und weiß nicht so recht, wie er uns einordnen soll. Ich sehe mir seine Schulterklappen und Abzeichen an und erkenne, dass er im Rang weitaus höher gestellt ist. Anscheinend bekomme ich nun wohl eine Sonderbehandlung, denke ich mir leicht nervös. In der Zwischenzeit kommt der Busfahrer aufgeregt zum Schalter und erkundigt sich, ob mein Grenzübertritt noch lange dauern wird. Nach einem kurzen russischen Wortwechsel mit dem Grenzbeamten zeigt er mir ein Foto von einem Nummernschild eines Mercedes Busses und gibt mir zu verstehen, dass er weiter fahren muss und, dass dieser Bus mich, wenn mit meiner Kontrolle alles gut geht weiter nach Wladikawkas auf der russischen Seite fahren wird. Die beiden Grenzer nehmen den Ukrainer und mich mit hinaus in ein separates Gebäude und sagen zu mir, als ich sie fragend ansehe: “special control” in russischem Akzent. Wir passieren zwei Sicherheitsschleusen und werden angewiesen, in einem Raum mit zwei großen, grün lackierten Holzbänken an den Wänden zu warten. Zuerst ruft man den Ukrainer zu sich und befragt ihn sehr sehr lange. Nach über einer Stunde ruft man mich in einen Raum mit zwei Schreibtischen und bittet mich, Platz zu nehmen. Der Vorgesetzte befragt mich sehr lange und ausgiebig nach meinen Absichten und Beweggründen in Russland, wo ich zuletzt gewesen bin und ob ich irgendwelche dubiosen Verbindungen hätte. Ich erkläre ihm, dass ich Bergsteiger bin und dass ich den Elbrus besteigen möchte. Glücklicherweise unterstreicht meine Reisehistorie, mein Aussehen und meine Ausrüstung meine Erklärung wodurch die beiden Grenzbeamten sehr schnell verstehen und glaubhaft nachvollziehen können, dass ich tatsächlich nur ein Tourist und Bergsteiger bin und keine weiteren politischen Absichten im Sinn habe. Dennoch fordern sie mich dazu auf, dass ich ihnen mein Handy samt meines Pins übergebe, damit sie mich und mein Handy weiter durchleuchten können. Natürlich gebe ich keine Widerrede und händige ihnen mein Handy samt meinen Zugangsdaten und Pin Codes aus. Ich werde wieder in den Warteraum geschickt und warte eine weitere Ewigkeit, bis ein junger Mitarbeiter in Zivil, wahrscheinlich eine Art Cyber Security Mitarbeiter mir mein Handy und meinen Pass wieder überreicht. Ich sehe ihn fragend an, was als nächstes passiert und er gibt mir behelfsmäßig zu verstehen, dass der Ukrainer noch weiter verhört und durchleuchtet wird und ich im Anschluss mit ihm zusammen über die Grenze nach Russland weiter reisen kann. Während ich darauf warte, dass Dimitri endlich aus dem Verhör entlassen wird, beobachte ich, wie eine Frau auf russisch weinend um Hilfe fleht, dass der Grenzbeamte ihr entgegenkommt. Ich kenne ihre Geschichte nicht, ob sie von Russland nach Georgien will oder andersherum. Ich verstehe nur, dass man ihr nicht helfen kann und ihr Anliegen abgelehnt wird. Verzweifelt bricht sie in Tränen aus und ruft immer wieder “Пожалуйста” Pozhaluysta, was so viel bedeutet wie “bitte”. Nach einer Weile geleitet man sie heraus und ich warte weiter darauf, dass ich und Dimitri weiter nach Wladikawkas fahren dürfen. Endlich hat das Warten ein Ende. Dimitri und ich dürfen die Grenze passieren und werden aus dem Gebäude hinaus auf die andere Seite der Grenze geleitet. Dort kommt ein Busfahrer auf uns zu und erklärt uns, dass der zweite Bus, der auf uns warten sollte und in dem sich mein Gepäck und meine Ausrüstung befindet, ebenfalls weiterfahren musste und er uns deshalb mit in die Stadt nimmt.

Wir steigen beide in den Bus und setzen uns auf die hinterste Rücksitzbank. Wir schließen die Seitenschiebetür und fahren los nach Wladikawkas. Sichtlich erleichtert schnaufen wir beide durch, dass wir den Grenzübergang überstanden haben und blicken nachdenklich aus dem Seitenfenster. Dimitri kramt zwei Snickers Schokoriegel aus seinem Rucksack und drückt mir einen davon wohlwollend in die Hand. Ich nehme das Snickers dankend an, denn ein wenig Zucker kann ich jetzt gut vertragen. Ich lasse das Erlebte sowie die Gedanken und Emotionen Revue passieren und denke darüber nach, während ich die umliegenden Berge und den abwärtsfließenden Fluss beobachte. Wie in Trance blicke ich hinaus und bin dankbar, dass es zu keinen Komplikationen an der Grenze kam und ich lediglich etwas länger und gründlicher durchleuchtet wurde. Nachdem ich gedanklich wieder im Hier und Jetzt angekommen bin, ziehe ich mein Handy aus der Tasche und prüfe, ob ich ein Signal habe. Natürlich habe ich kein Signal, woher auch. Weder meine deutsche oder türkische SIM-Karte funktionieren hier. Ich mache mir Gedanken darüber, wie es in Wladikawkas weitergehen könnte, als mir einfällt, dass ich mich in Wladikawkas zuerst um meine Ausrüstung kümmern muss, die in einem Kofferraum eines anderen Autos steckt. Ich frage Dimitri, ob er die Aussage des Fahrers übersetzen kann, wo meine Ausrüstung abgeblieben ist und wie ich sie zurückerhalte. Ich spreche und verstehe zwar ein bisschen russisch und kann die Buchstaben des Kyrillischen Alphabets lesen, da ich ziemlich unterdurchschnittlich vier Semester lang russisch studiert habe, jedoch reicht das Bisschen bei weitem nicht aus einer komplexen oder schnell gesprochenen Unterhaltung zu folgen geschweige denn mich zu artikulieren. Es reicht gerade mal, um Schilder und einfache Texte zu lesen und zu verstehen und die einfachsten und langsamsten Unterhaltungen nachvollziehen zu können. Dimitri erklärt mir, dass der Fahrer mit meiner Ausrüstung zu einer Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite der Busstation kommt und mir meine Ausrüstung bringt. Wir verlassen den Gebirgspass und gelangen in die Stadt Wladikawkas. Der russische bzw. sowjetische Stil der Stadt fällt einem sofort auf. Große, breite, mehrspurige, geradlinige Straßen führen in das Zentrum der Stadt während links und rechts viele überdimensionierte, einheitliche und nicht gerade ansehnliche Plattenbauten die Straßen säumen und das Stadtbild dominieren. Die Überbleibsel der Planwirtschaft und deutliche Anzeichen der sowjetischen Vergangenheit des Landes, wie Kunst, Statuen und Gebäude sind bei aufmerksamer Beobachtung überall zu vernehmen. Mein erster Eindruck des Landes ist, dass man zwar die Vergangenheit Russlands und alte Elemente deutlich erkennt, gleichzeitig bin ich erstaunt darüber, wie modern und gepflegt viele Straßen, Autos und Geschäfte auf den ersten Blick doch aussehen.

Zugegebenermaßen hatte ich ein marodes, überaltertes, heruntergekommenes und strukturschwaches Erscheinungsbild der Stadt erwartet. Diese Annahme bestätigte sich jedoch in Wladikawkas zu Beginn keineswegs. In der Nähe der Busstation angekommen, lässt der Fahrer uns aussteigen und signalisiert uns den Weg zur Tankstelle, an der ich warten soll. Dimitri und ich gehen ab hier getrennte Wege, denn ich muss so lange auf den anderen Fahrer warten, bis ich meine Ausrüstung und meinen Rucksack zurückerhalte. An der Tankstelle angekommen, wittern einige Taxifahrer die Chance auf ein Geschäft und bieten mir ihren Fahrdienst an. Ich lehne dankend ab und erkläre ihnen, dass ich auf meine Ausrüstung warte, zeige ihnen das Foto und frage, ob sie einen Bus mit diesem Nummernschild kennen oder gesehen haben. Sie schütteln alle den Kopf und verlieren sogleich das Interesse an mir, denn sie begreifen, dass es bei mir nichts zu verdienen gibt. Nachdem ich über eine Stunde vergebens an der Tankstelle warten musste werde ich langsam ungeduldig und nervös und befürchte, dass ich möglicherweiser meiner Ausrüstung und meines Gepäcks beraubt wurde, denn ich habe nichts weiter als ein Foto und ein Nummernschild eines Autos und nichts weiter. Ich habe weder eine Telefonnummer, noch einen Namen oder sonst irgendetwas. Nun bin ich wirklich ernsthaft beunruhigt und gehe das Worst-Case-Scenario bereits in meinem Kopf durch. In nicht einmal einer Stunde wird es dunkel und ich habe weder meine Ausrüstung noch meinen Rucksack, keine Internet- oder Telefonverbindung und russische Rubel habe ich auch noch keine. Alles was ich noch besitze und nahezu meine gesamte Existenz ist in diesem Rucksack und in dieser Tasche. Ich fühle mich ein wenig hilflos, mittellos und ausgeliefert. Als ich nach ewig langer Wartezeit die Hoffnung auf eine positive Wendung fast verloren habe, kommt endlich ein Bus vorbeigefahren, der wie auf dem Bild aussieht, das ich abfotografiert habe. Der Fahrer schaut mich lächelnd an, öffnet seinen Kofferraum und übergibt mir mein kostbares und überlebensnotwendiges Gepäck. Extrem erleichtert schnappe ich mir meine Ausrüstung und bin dankbar, dass ich meine schwere Last wieder schultern darf.

Das wäre also geschafft und ich habe eine Sorge weniger. Ich bin endlich in Russland angekommen und meine Ausrüstung habe ich auch bei mir. Gar kein so schlechter Start, denke ich mir. Als nächstes benötige ich Bargeld und eine russische SIM-Karte für eine funktionierende Internetverbindung. Ich suche also zunächst eine Bank oder eine Wechselstube auf. Etwas schwerfällig laufe ich den von Bäumen gesäumten Fußweg parallel zur Hauptstraße in Richtung Stadtzentrum entlang.

Die erste Passantin die ich sehe frage ich, behelfsmäßig ob sie weiß, wo und wie ich Geld wechseln kann. Sie erklärt mir, dass es ein paar Straßen weiter ums Eck eine Sberbank gibt und dass ich dort Geld wechseln könne. Der Beschreibung folgend finde ich nach etwa zehn Minuten die sehr professionell geführte Bank. Ich ziehe eine Nummer und muss anschließend ein paar sehr detaillierte Angaben machen, sowie meinen Reisepass kopieren lassen, bevor man mir meine Dollar in Rubel wechselt. Ich bekomme etwa 60 Rubel für einen Dollar und lasse mir 12.000 Rubel auszahlen. Ich bin mir zwar nicht sicher, nein, ich bezweifle sogar, ob dieser Betrag für mein Vorhaben ausreichen wird, aber ich versuche es damit einmal. Zur Not habe ich noch etwa 200€ Bargeld dabei, die ich umtauschen kann, falls mir das Geld ausgeht. Sollte auch das nicht ausreichen, bin ich auf die Gunst und Hilfe der russischen Bewohner angewiesen, denn eine andere Möglichkeit an Geld zu kommen habe ich hier nicht. Zufrieden und mit Bargeld in der Tasche verlasse ich die Bank und suche als nächstes einen Mobilfunkprovider, der mir eine russische SIM-Karte verkauft. Die russischen Bürger, bei denen ich mich erkundige, sind erneut sehr freundlich und helfen mir, mit ihren Beschreibungen den geeigneten Shop zu finden. Ich lasse mir von einer Mitarbeiterin die verschiedenen SIM-Karten und Pakete erklären und entscheide mich für einen Tarif von MTS (MTC) für ca. 1200 Rubel. Erst später sollte ich erfahren, dass dies für die Besteigung des Elbrus von Norden die falsche Entscheidung war, denn der Provider MegaFon wäre dafür definitiv besser geeignet.


Organisatorische Info:

Zum Thema Internet, Telefon und SIM-Karten im Ausland kann ich jedem nur empfehlen, dass er sich entweder ein Handy mit zwei SIM-Karten slots zulegt, denn dadurch kann man seine heimische SIM-Karte und die des Auslands gleichzeitig nutzen und die Verwendung von SMS, Telefonie und Mobilen Daten entsprechend priorisieren. Für langzeitreisende wie mich würde ich sogar empfehlen darauf zu achten, dass ihr euch ein neues Handy mit “E-SIM” Funktion zulegt. Das ist quasi eine “virtuelle SIM-Karte”, dadurch kann man sich eine funktionierende Daten- und Telefonie Verbindung in nahezu jedem Land einrichten, ohne dass man jedes mal eine neue SIM-Karte kaufen muss. Mein Samsung Galaxy S10 ist dafür zu diesem Zeitpunkt wohl leider zu alt, weshalb ich auf diesen Luxus leider nicht zurückgreifen kann.


Die Mitarbeiterin in dem Shop hilft mir dabei, die russische SIM-Karte auf meinem Handy zu aktivieren und ich bin nun endlich online. Ich verlasse den Shop und suche ein Restaurant um die Ecke auf, um eine Kleinigkeit aus russischer Küche zu essen.

Ich melde mich unmittelbar bei meiner Familie und Freunden, die womöglich bereits krank vor Sorge sind. Meine Mam und einige Freunde haben sich besonders große Sorgen gemacht, denn die aktuelle Lage hat ihnen einfach Angst gemacht. Da ich nun eine funktionierende Internetverbindung habe, melde ich mich bei ihnen, dass ich ohne große Probleme über die Grenze gekommen bin und mir alle Menschen vor Ort freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit begegnen. Die Menschen, die mir nahestehen, sind extrem erleichtert und dankbar, dass ich ihnen direkt Bescheid gegeben habe, dass meine Ankunft in Russland und der Grenzübertritt ohne große Vorkommnisse funktioniert hat. Es ist quasi eine Art Kompromiss mit meinen Liebsten, die in besonderer Sorge um mich sind, wenn ich mich mal wieder alleine auf ein Abenteuer begebe, mich Gefahren aussetze, hohe Berge im Winter solo besteige und meine körperlichen und geistigen Grenzen austeste und vor allem erweitere. Sie haben verstanden und wissen, dass ich dies zum “Über Leben” brauche und sie befreien mich von der Last, dass sie mir permanent ihre Sorgen mitteilen und indem sie mir ihr Vertrauen schenken, im Gegenzug dafür versuche ich sie immer so gut ich kann darüber zu informieren, wo ich mich gerade befinde und was ich gerade treibe, damit sie nicht komplett im dunkeln tappen und wahnsinnig vor Sorge werden. Außerdem habe ich meinen teilweise blinden und Ego getriebenen Ehrgeiz abgelegt, der mich manchmal, ohne groß darüber nachzudenken, zu vielen verschiedenen Gipfeln unter den widrigsten Umständen gepusht hat. Es gab Zeiten in meinem jüngeren und rücksichtsloseren Bergsteigerleben, in denen ich überhaupt nicht einsehen wollte, solch einen Kompromiss einzugehen und für mich beansprucht hatte, dass ich niemandem Rechenschaft schuldig wäre, bei dem was ich tue und wie ich es tue. Erst nach einigen äußerst dramatischen Erfahrungen in den Bergen, die ich beinahe mit dem Leben hätte bezahlen müssen kam ich langsam zu der späten Einsicht, dass ich dieses Verhalten meinen Mitmenschen nicht länger zumuten kann und ich einen Weg finden muss, wie ich mein Bedürfnis nach extremen Erfahrungen weiter ausleben kann ohne die Menschen, die mich lieben und sich um mich sorgen vor den Kopf zu stoßen und ihnen keine weiteren Sorgen und schlaflosen Nächte zu bereiten. Natürlich machen sie sich immer noch ihre Gedanken, wenn ich mich mal wieder in Gefahr begebe, aber sie wissen, dass ich die Berge und das Abenteuer liebe und freuen sich mit mir, wenn ich auf Reisen bin. Während ich so dasitze und über WhatsApp mit meiner Familie kommuniziere wird mir erstmal bewusst, wie mittellos man sich in einem fremden Land fühlen kann, wenn man weder Bargeld noch eine funktionierende Telefon- und Internetverbindung hat und wie viel einfacher doch alles erscheint, wenn man Zugriff zu diesen Dingen hat. Natürlich ist dabei auch viel Einbildung im Spiel, denn tatsächlich ist man nicht wirklich mittellos oder hilflos, denn ich durfte auf meinen vielen Reisen bereits glücklicherweise erfahren, wie überaus hilfsbereit die Menschen sind, wenn man sie ohne Geld und ohne jegliche Mittel um Hilfe bittet. Meiner Erfahrung nach sind viele Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen extrem hilfsbereit und über alle Maßen großzügig, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, sondern einfach nur um des Helfens Willen und weil sie Gutes tun wollen.

Nach dem Essen überlege ich mir, wie ich nun, da ich mich in Russland befinde, am besten zur Nordseite des Elbrus komme. Meiner Recherche zufolge war Naltschik ein guter Ausgangspunkt, denn von hier aus kann man sowohl die Südseite als auch die Nordseite des höchsten Bergs Russlands gut erreichen. Der Ausgangspunkt für eine Besteigung über die Nordseite ist der Ort Djili-Su. Ich könnte es mir einfach machen und einem Taxifahrer 60-100 Dollar in die Hand drücken, dass er mich dorthin fährt. Dies wäre praktisch, da ich mich nicht sonderlich gut vor Ort auskenne, da ich aber so viel Geld wie möglich sparen will entscheide ich mich stattdessen dafür mit den öffentlichen Verkehrsmitteln über Naltschik nach Pjatigorsk zu fahren, wo ich meine finalen vorbereitungen für die Besteigung des Elbrus treffen werde. Ich mache mich auf den Weg zur Busstation in Wladikawkas und kaufe ein Ticket nach Naltschik.

Der Bus nach Naltschik geht um 18:00 Uhr und die Fahrt dauert etwas länger als eine Stunde. Es ist ein kleiner, kompakter und gut gefüllter Bus mit etwa dreizehn Plätzen und gerade genug Platz für ein wenig Gepäck. Während der Fahrt im Dunkeln auf der E-50 nach Nordwest passieren wir auffallend viele Straßensperren und militärische Checkpoints, die ich so nur von Ländern wie Algerien gewohnt bin. Mit mir zusammen im Bus sitzen Berufspendler, die so aussehen, als würden sie nach der Arbeit nach Hause fahren. Es ist komplett dunkel im Bus und nur eine kleine dezente blaue Lichtleiste leuchtet am Boden, während wir, wie dunkle, blau angeleuchtete Gestalten stillschweigend da sitzen und der Busfahrer ein russisches Lied von “Robert Karaketov” namens “Ukradu” hört. Ich bin in diesem Moment sehr glücklich, denn trotz der kleinen Umstände lief bisher alles sehr gut, ja fast reibungslos und meiner Besteigung des Elbrus steht außer dem Wetter nun fast nichts mehr im Wege. In Naltschik angekommen, muss ich leider feststellen, dass an diesem Abend leider kein Bus mehr nach Pjatigorsk fährt. Also stelle ich mich an die Straße vor der Busstation und versuche per Anhalter eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern, denn ich will heute noch so weit wie nur irgendwie möglich kommen. Ich warte eine ganze Weile erfolglos, denn wer will schon im Dunkeln einen Fremden mit zwei riesengroßen Taschen in seinem Auto mitnehmen, als plötzlich zwei junge Kerle neben mir anhalten und mich fragen, ob sie mir irgendwie helfen können. Ich erkläre ihnen, dass ich nach Pjatigorsk möchte und dass der letzte Bus bereits abgefahren ist. Sie begleiten mich noch einmal in die Halle der Busstation und fragen bei der lustlosen Mitarbeiterin am Schalter nach. Sie erklären mir erneut, was ich bereits wusste, dass es an diesem Abend keine Verbindung mehr nach Pjatigorsk gibt. Ich frage die beiden, ob sie mich vielleicht für einen geringen Betrag mit nach Pjatigorsk nehmen wollen. Die beiden beraten sich eine kurze Weile auf russisch, drehen sich zu mir und geben mir mit ihrem gebrochenen Englisch zu verstehen: "Schmeiß deine Taschen in den Kofferraum, wir fahren dich nach Pjatigorsk”. Etwas überrascht frage ich die beiden, was sie dafür verlangen wollen, denn ich erkläre ihnen, dass ich nicht sehr viel Geld bei mir habe und mit dem, was ich habe, sehr haushalten muss. Einer von ihnen namens Alim gibt mir zu verstehen, dass sie mich umsonst mitnehmen, denn die beiden leben in Pjatigorsk und sie würden mir gerne helfen. Etwas überrascht vergewissere ich mich bei den beiden Jungs, ob das wirklich in Ordnung für sie ist. Sie sagen, ich soll einsteigen und mir keine Gedanken machen, denn sie sind Tscherkessen und das ist ihre Art, mir ihre Gastfreundlichkeit auszudrücken. Im ersten Moment bin ich noch ein kleines bisschen skeptisch, auf der anderen Seite nehme ich keinerlei Signale wahr, dass die Jungs mir etwas Böses wollen, also begebe ich mich ins Vertrauen und nehme die willkommene Hilfe überaus dankend an. Die Fahrt dauert etwa 1,5 Stunden und die Jungs fragen mich ganz neugierig, woher ich komme und was ich hier in Russland in der Kaukasusregion treibe. Als ich ihnen von meinem Vorhaben, meiner Herkunft und meiner Reise berichte staunen sie nicht schlecht und unterhalten sich mit mir ganz aufgeregt über allerlei Dinge des alltäglichen Lebens, über sich, über mich, den Krieg, die Beziehung zwischen Kaukasus und Moskau, ihre Familien, ihre Arbeit und vieles vieles mehr. Sie fragen mich, ob es für mich in Ordnung wäre, wenn sie mich kurz mit zu ihren Familien und Freunden mitnehmen und mich vorstellen würden. Natürlich lehne ich diese Bitte und tolle Geste keinesfalls ab und erkläre ihnen, dass es mich sehr freuen würde, ihre Familien kennen zu lernen. Sie nehmen mich kurz mit zu sich nach Hause in eine Häusersiedlung in Pjatigorsk, wo man mich den Freunden und der Familie vorstellt und davon erzählt, was der verrückte Deutsche da alleine vor hat. Anschließend fragt mich Alim, ob ich noch ein wenig Zeit und Hunger habe und ob ich mit ihnen zusammen typisch kaukasisches Streetfood essen gehen möchte. Ich sage natürlich ja, denn es gibt nichts besseres als mit Locals, die sich in ihrer Heimat auskennen, essen zu gehen und außerdem wollte ich mich bei den beiden erkenntlich zeigen und sie zum Essen einladen. Wir fuhren zu einem Laden, in dem es richtig gute hausgemachte Schwarma/ Shawarma/Shaurma gibt. Shawarma ist eine typisch orientalische Köstlichkeit aus dem osmanischen Reich. Ähnlich wie Döner Kebab und Gyros werden große marinierte Fleischscheiben, schichtweise auf einen Drehspieß gesteckt und gegrillt, während die äußeren angebratenen Schichten dünn mit einem großen Messer abgeschnitten werden. Vor dem aufschichten der Fleischscheiben auf dem Spieß werden die Stücke mehrere Stunden in einer Marinade aus Zitronensaft und einer Vielzahl von Gewürzen wie, Koriandersamen, Kardamom, Kreuzkümmel, Kurkuma, Zimt, Gewürznelken, Minze, Pfeffer, Paprika und Knoblauch eingelegt. Serviert werden die dünnen abgeschnittenen Fleischscheiben dann eingewickelt in ein dünnes Fladenbrot, welches manchmal mit Sesampaste und zusammen mit frischem oder gebratenem Gemüse kombiniert wird. Dazu haben wir dann eine Art grüne Waldmeister/Kräuterlimonade und als zweites eine Birnen Limonade getrunken.


Gerade als ich bezahlen wollte und den Jungs erklärte, dass ich mich erkenntlich zeigen und sie einladen möchte gab mir Alim zu verstehen, dass ich bitte meinen Geldbeutel wieder wegstecken solle, denn er besteht darauf, dass ich ihr Gast bin und, dass es ihre Tradition sei mich einzuladen.

Ich bedanke mich vielmals bei den Jungs und kann ehrlich gesagt kaum glauben, dass mir an meinem allerersten Tag in Russland, bzw. genauer gesagt im Kaukasus, so eine außerordentliche Gastfreundschaft entgegengebracht wird. Wir unterhalten uns noch ewig weiter während des Essens über alle möglichen Themen, wie die Situation in der Ukraine oder sonstige Themen, die die Menschen beschäftigen. Alim erzählt mir, dass er Inhaber einer russischen E-Commerce Online Handelsplattform ist und zeigt mir stolz seine Firma im Internet. Er erklärt mir, dass er seit kurzem Papa geworden ist und er hauptsächlich in Moskau arbeitet, aber dass er gerade für drei Wochen in der Heimat ist und Urlaub macht, denn die russischen Bürger können derzeit das Land nicht verlassen, weshalb sie alle im Inland Urlaub machen. Die Jungs haben so viel Spaß am Austausch mit mir, dass sie mich fragen, ob ich noch mit ihnen zusammen den Abend verbringen will und sie mir einen Aussichtspunkt im Park zeigen dürfen, von wo man die ganze Stadt Pjatigorsk überblicken kann. Ich bin zwar ein wenig müde von der langen Reise, aber ich bin den beiden Jungs einfach unendlich dankbar, dass sie mich, einen fremden Ausländer aus dem Westen, so positiv und gastfreundlich empfangen haben, während unsere Regierungen im Konflikt zueinander stehen. Das zeigt mir einmal mehr, dass man aufgrund von Handlungen einzelner Akteure nicht gleich eine ganze Nation oder ein Volk stigmatisieren darf, wenngleich die Geschehnisse in der Ukraine fürchterlich sind und sie hoffentlich ein baldiges und friedliches Ende finden mögen. Wir verlassen das Shawarma Lokal und steigen wieder ins Auto, jedoch versucht Alims Kumpel vergeblich, dass das Auto anspringt. Mir scheint fast, als sei die Batterie wohl leer. Ich frage die Jungs mit einem Grinsen im Gesicht, ob wir das Auto anschieben sollen, damit wir das Auto wieder zum Laufen kriegen? Alim bricht in Gelächter aus und sagt: "Ja, Norrdine, hilf mir mal, den alten Lada wieder in Gang zu kriegen”. Wir bekommen uns kaum ein vor Lachen, weil wir vor dem Lokal nun den alten Lada, der uns den Dienst quittiert hat, anschieben müssen. Nach ein paar Metern lässt Alims Freund mit Gas den Gang ins Getriebe schnalzen, wodurch der Motor des alten Lada anspringt und wir wieder ins Auto springen und weiterfahren. In der Nähe des Aussichtspunktes angekommen, sage ich zu den Jungs, “Stell das Auto lieber gleich am Hang ab, damit wir nicht nochmal anschieben müssen und den alten störrischen Lada gleich bergab rollen lassen können, damit er anspringt.'' Die Jungs brechen erneut in Gelächter aus und sagen, dass das eine sehr gute Idee sei. Nach einer kurzen Wanderung durch den Park befinden wir uns nach ein paar Metern hoch über Pjatigorsk und blicken über die Stadt. Naja, wir blicken vielmehr in eine Nebelwand, denn die Sicht ist keine 15 Meter weit und wir erkennen kaum etwas.

Die Jungs erklären mir, dass der Name der Stadt Pjatigorsk in etwa “fünf Berge” bedeutet und, dass die Stadt von fünf Bergen umgeben ist, die ihr dadurch den Namen verleihen, dass wir uns auf einem dieser Berge befinden und man von hier aus die restlichen vier Berge rund um die Stadt sehen kann. Nach ein paar Selfies fragen mich die Jungs, wo ich heute denn heute überhaupt schlafen werde? Ich erkläre Alim, dass ich mir darüber ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht habe und lediglich eine Herberge im Internet gefunden habe, bei der ich es versuchen wollte. Die beiden Jungs schauten mich etwas ungläubig an und meinten, "Naja, dann fahren wir dich da mal hin und schauen uns das an.” Es ist fast Mitternacht, als wir an der Tür der Herberge klingeln. Eine Stimme über die Sprechanlage erklärt uns, dass sie keine Betten frei haben und dass ich es doch woanders versuchen sollte. Alim und sein Kumpel brechen erneut in Gelächter aus und sagen mir, dass ich wirklich ein Freak sei, dass ich einfach so ohne große Überlegung meine Tour durchziehe und nicht einmal darüber Gedanken mache, wo ich heute Abend schlafen soll. Mit Tränen in den Augen zieht er sein Handy aus der Hosentasche und sagt: “Komm ich helf dir mal, die Leute hier sprechen kaum Englisch und dein Russisch ist kaum der Rede Wert und ich kenne eine gute Herberge, die vielleicht einen Platz für dich frei hat” Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und feuchten Augen vor Lachen ruft er beim “Hostel Friends” an und macht mir eine Übernachtung für heute Abend klar. Er schaut mich grinsend an und sagt: “Komm spring ins Auto, ich habe einen Ort zum übernachten für dich gefunden”. Alims Kumpel war so geistesgegenwärtig und ließ den Lada laufen, damit wir die alte Maschine nicht noch einmal anschieben müssen und noch weiter in Gelächter ausbrechen. Am Hostel Friends um Mitternacht angekommen half mir Alim noch mit der Verständigung an der Rezeption, bis ich endlich eingecheckt und mein Schlafplatz sicher war. Er kramte noch zwei Chicken Fajita Sandwiches, die in Alufolie gewickelt waren, aus der Tasche, die er zuvor im Imbiss für mich gekauft hatte und sagte, dass sie für mich seien, damit ich morgen früh etwas zum Essen habe. Absolut gerührt von Alims Großzügigkeit bedanke ich mich vielmals bei ihm für alles, was er für mich an diesem Abend getan hat und die lustige gemeinsame Zeit zusammen. Ich umarme ihn zum Abschied, bedanke mich nochmals recht herzlich und verabschiede mich von ihm. Als Alim die Tür hinter sich schloss, zeigte mir die junge Rezeptionistin kurz das gesamte Hostel, wie den Gemeinschaftsraum, die Küche, den Waschraum, den Außenbereich, die Toiletten und Duschen und zuletzt mein Zimmer und mein Bett. Sie redete extrem schnell ohne Punkt und Komma, alles komplett auf russisch und ich verstand gerade einmal die Hälfte von dem, was sie mir sagte. Da ich jedoch nicht das erste Mal in einem Hostel war, glaubte ich grob zu verstehen, was sie mir erzählte. Die meisten Hostelgäste schliefen bereits, also machte ich mich ebenfalls fertig fürs Bett, sprang unter die Dusche, putzte mir die Zähne und legte mich müde, erschöpft und zufrieden ins Bett, woraufhin ich sofort in einen gerechten Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen machte ich mich auf, die Stadt bei Tageslicht zu erkunden und einige finale Besorgungen für die wahrscheinlich lange und kalte Zeit am Berg zu tätigen. Ich gehe also nach draußen vor die Tür und bemerke beim ersten Anblick des strahlend blauen Himmels, dass heute ein ganz außerordentlich herrlicher Tag ist. Ein alter verfallener Lada mit platten Reifen steht vor dem Hostel, was genau meiner vorurteilbehafteten Erwartungshaltung an Russland entspricht.

Der Rest der Stadt entspricht diesem Bild jedoch ganz und gar nicht, denn sie ist wahrlich eine Augenweide. Während ich so durch Pjatigorsk laufe, fällt mir auf, wie toll und gut organisiert die Stadt doch ist. Saubere und moderne Straßen, tolle Cafes, wunderschöne orthodoxe Kirchen und toll angelegte Garten- und Parkanlagen finden sich überall in dem Kurort. Die Stadt ist seit mehreren Jahrhunderten für ihre heißen Quellen bekannt und war ein beliebtes Urlaubs- und Reiseziel der Aristokraten ab 1800.


Auch für heutige Verhältnisse ist die Stadt ein toller Kurort zum Verweilen, Erholen und Flanieren und ein überaus geeigneter Ausgangspunkt für eine Elbrus Besteigung. Normalerweise beginnt eine Expedition zu diesem Berg nicht wie in meinem Fall über die Grenze zu Georgien sondern die meisten Elbrus Aspiranten fliegen mit dem Flugzeug über Moskau zur Stadt Mineralnyje Wody (übersetzt Mineralwasser), die etwa 25km nördlich von Pjatigorsk liegt. Daher kann ich jedem Anreisenden diesen tollen Kurort sehr als Ausgangsort für Vorbereitungen zur Besteigung empfehlen. Ich steige erneut auf den Berg des Vorabends, auf dem ich mit Alim und seinem Kumpel gestiegen bin, um das Stadtpanorama und die umliegenden Berge erneut bei Tageslicht und freier Sicht zu betrachten. Oben angekommen bietet sich mir ein wundervoller und klarer Anblick über die Stadt der Fünf Berge.

Ich erkenne rund um die Stadt vereinzelte Hügel und Berge, die nach meinem Verständnis aussehen, als seien sie vulkanischen Ursprungs. Das macht auch Sinn, denn der Elbrus ist ebenfalls ein stark vergletscherter Vulkan, dessen letzter Ausbruch ca. 2000 Jahre her ist. Außerdem deuten die heißen Quellen der Stadt ebenfalls auf eine geologisch aktive Zone hin. Zu guter letzt Bestätigt ein Blick auf die tektonischen Plattenverläufe meine Annahme, denn das Kaukasusgebirge entsteht dadurch, dass die arabische Platte nach wie vor mit ca. 2,5cm pro Jahr in Richtung Norden auf die Eurasische Platte driftet. Diese Bewegung wirft das bis zu 5600 Meter hohe Gebirge auf und daraus resultierende Subduktionszonen rund um den Plattenverlauf haben vulkanische Aktivitäten und heiße Quellen zur Folge. Leider hat diese sehr starke Plattentektonik in der Vergangenheit einige verheerende Erdbeben in der gesamten Region zur Folge und somit katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung. Das Gebirge besteht überwiegend aus Graniten und Gneisen, darüber hinaus lagern in der Kaukasusregion riesige Mengen an Erdgas und Erdöl. Aus diesem Grund hatte die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ein ganz besonderes Interesse, diese Region und Bodenschätze unter ihre Kontrolle zu bringen. Während mein Blick über die Stadt und die vulkanischen Hügel wandert, erkenne ich im Süden leicht die Silhouette der gezackten Gipfel des Kaukasus. Ich lasse meinen Blick weiter schweifen, um zu sehen, ob ich den Elbrus vielleicht erkenne. Plötzlich fällt mir eine enorm große weiße Kuppel hinter einem der Hügel in der Ferne auf und ich erkenne die Formation. Da ist er, der Elbrus! Es ist jedes Mal ein magischer Moment für einen Bergsteiger, wenn er das Objekt seiner Begierde zum ersten Mal mit seinen eigenen Augen real zu sehen bekommt. Eine fast undefinierbare Mischung aus Vorfreude, Demut und energetischer Angriffslust steigt in mir auf. Als ich genauer hinsehe, fällt mir auf, dass just in diesem Moment ein heftiger Wind und eine große fast schlangenartige weiße Wolkenformation, wie ein Ungeheuer über den Doppelgipfel des Vulkans, bricht. Es ist dazu auch noch der besonders gefürchtete Ost-West-Wind, der mit besonders unerbittlicher Härte, Kälte und extremen Geschwindigkeit über diesen Berg fegt. Wer gerade in diesem Sturm steckt, hat es entweder extrem schwer und muss sofort absteigen oder muss womöglich mit seinem Leben bezahlen. Erst letztes Jahr im September 2021 starben fünf Menschen und weitere elf Bergsteiger überlebten die Tragödie gerade so mit ihrem Leben, denn sie wurden von einem heftigen Sturm überrascht, der einigen von ihnen das Leben kostete. Eine Bergsteigerin, die sich unwohl fühlte, kehrte leider zu spät mit ihrem Guide um und starb am Ende noch in seinen Armen. Ich erzähle dies nicht, um diese Besteigung zu dramatisieren, sondern, um auf die Gefahren am Berg aufmerksam zu machen. Der Elbrus gilt besonders von der Südseite als gemeinhin einfacher Berg. Er erfordert etwas Kraft, Ausdauer und Leidensfähigkeit. Darüber hinaus muss man ein wenig Geduld für die Akklimatisierung mitbringen, damit sich der Körper langsam an die Höhe, den daraus resultierenden geringeren Umgebungsdruck und den damit einhergehenden Sauerstoffmangel gewöhnen kann. Aufgrund der Tatsache, dass die Besteigung verhältnismäßig einfach ist, neigt man dazu, die Gefahren des Berges zu unterschätzen. Auch, wenn der Berg keine technische Herausforderung darstellt, handelt es sich hierbei um einen hohen Berg, der auch noch zwischen zwei großen Wassermassen, dem Kaspischen Meer und dem Schwarzen Meer liegt. Das Gebirge trennt dazu eine äußerst warme Region im Süden von einer kühlen Region im Norden. Die Konstellation dieser Faktoren macht das Wetter am Elbrus durchaus unberechenbar und Wetterprognosen sind mit Vorsicht zu genießen. Die Wetterlage ändert sich folglich sehr schnell und man muss Tag für Tag aufs Neue abwägen, ob ein Gipfelversuch sicher ist. Hinzu kommt, dass der Elbrus ein sehr kalter Berg ist und die Temperaturen zu dieser Jahreszeit problemlos unter -30 Grad Celsius fallen können. Ich hingegen sitze gerade noch mit meiner Sonnenbrille im T-Shirt und kurzer Hose auf einem Felsvorsprung, während ich den Elbrus aus der Ferne betrachte und dabei ein Glas frisch gepressten Granatapfelsaft trinke.

Nach einer Weile steige ich wieder hinunter in die Stadt und treffe alle Vorkehrungen, die für die anstehende Besteigung notwendig sind. Ich kaufe einen Vorrat an Gaskartuschen für meinen Kocher, denn ich weiß nicht genau, wie lange ich am Berg warten muss, damit ich ausreichend akklimatisiert bin und anschließend ein gutes Wetterfenster erwische. Für meine Verpflegung kaufe ich mehrere Packungen Frühstücksporridge, Spaghetti und Ramennudeln, Schokoriegel, Nüsse, Müsliriegel, Schokoladentafeln, Gummibärchen und noch weiteres Zeugs, dass mir schnell und mühelos Energie gibt. Zurück im Hostel packe ich meinen Rucksack für die Expedition und verstaue alles, was ich nicht brauchen werde in meinem großen gelben Duffelbag und frage die Rezeptionistin, ob ich diese Tasche hier lagern darf, um sie in ca zwei Wochen abzuholen.

Nun sind alle Vorbereitungen abgeschlossen und ich bin bereit, mich auf den Weg zur Nordseite des Elbrus zu machen. Mit meinem Rucksack auf den Schultern begebe ich mich zum Bahnhof und nehme den Zug von Pjatigorsk nach Kislowodsk. Von hier aus erhoffe ich mir, eine günstige Mitfahrgelegenheit nach Dschili Su zu finden.

Im Zug werde ich von einigen Passagieren und Mitfahrenden angesprochen, woher ich komme und was ich denn vorhabe. Alle sind extrem freundlich und neugierig und wollen mehr von mir erfahren. Sie geben mir sogar noch Tipps und Ratschläge für meine Weiterreise, wollen ein Bild zusammen mit mir machen und sich unbedingt über Instagram mit mir vernetzen, damit sie meinem Abenteuer folgen können. In Kislowodsk angekommen beginnt es zu regnen, also stülpe ich das Raincover über meinen Rucksack und ziehe mir die Kapuze meiner Hardshelljacke über den Kopf. Es wird bereits dunkel draußen und der Regen wird immer stärker, während ich durch die Stadt in Richtung Süden stapfe. Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass ich vielleicht vorsichtshalber Streichhölzer mitnehmen sollte, denn in großen Höhen ist auf Feuerzeuge nicht immer Verlass. Außerdem besorge ich mir lieber auch noch etwas Magnesium, für den Fall, dass ich muskuläre Probleme bekommen sollte. Es regnet nun bereits sehr heftig und die Straßen sind überflutet von großen Pfützen und Regenwasser, während ich mich dem Ende der Stadt stetig nähere. Ich halte vergeblich ein paar vorbeifahrende Autos und Taxis an und frage nach, ob mich jemand mit nach Dschili Su mitnimmt. Alle geben mir zu verstehen, dass niemand auf dem Weg dorthin ist und dass die Chancen um diese Uhrzeit sehr schlecht stehen, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Unbeirrt laufe ich weiter, verlasse die Stadt in Richtung Süden und laufe stetig Bergauf durch die Landschaft in der Dunkelheit.

Ich wandere ca eine weitere Stunde, als ich an einem kleinen Dorf vorbei komme. Es ist nichts los und außer ein paar Kühen auf der Straße ist niemand zu sehen. Mittlerweile kommen nicht einmal mehr Autos an mir vorbei gefahren. Während ich weiter Bergauf in die Dunkelheit laufe bemerke ich auf der anderen Straßenseite, wie fünf Männer vor einem Tor stehen und sich miteinander unterhalten. Im ersten Moment laufe ich an ihnen vorbei, entscheide mich dann aber doch unbewusst dafür umzukehren und die Herren anzusprechen, ob sie wissen, ob es eine Möglichkeit gibt nach Dschili Su zu kommen und wie weit es noch ist. Sie schauen mich völlig perplex an und geben mir zu verstehen, dass der Weg nach Dschili Su noch sehr, sehr weit sei, etwa 75 Kilometer und ich bitte auf gar keinen Fall auf eigene Faust zu Fuß in der Nacht die Straße entlang laufen solle. Ich konnte mich überhaupt nicht auf englisch oder russisch mit ihnen verständigen, weshalb wir die Google Translate Funktion meines Handys verwendeten, um uns zu unterhalten. Die App funktioniert so, dass ich auf Deutsch in mein Handy hineinsprechen oder schreiben kann und die App es auf russisch übersetzt und ebenfalls schriftlich oder gesprochen ausdrückt. So konnten wir uns ziemlich gut miteinander unterhalten. Die Funktion ist natürlich nicht super akkurat und präzise, aber sie ist gut genug, um eine detaillierte Unterhaltung zu führen. Nach längerem hin und her konnte ich ihnen erklären, dass ich den Elbrus besteigen möchte und dass ich nach einer günstigen Möglichkeit suche, um zur Nordseite des Elbrus zu gelangen. Sie wiederum erklärten mir, dass es heute keine Möglichkeit mehr gibt zum Elbrus zu gelangen, aber dass sie mir für 100 Dollar eine Fahrt am nächsten Morgen organisieren könnten. Ich lachte ein wenig und erklärte ihnen, dass ich so viel Geld dafür auf gar keinen Fall bezahlen kann und ich mit meinem wenigen Bargeld haushalten müsste. Daraufhin telefonierte einer von ihnen mit einem Freund, der am nächsten Morgen mit einer Gruppe nach Dschili Su fährt, bei der ich mich für 30 Dollar anschließen könnte. Sie luden mich in ihr Haus ein und meinten, ich solle mich doch mit zu ihnen an den Tisch setzen und etwas zu Abend essen. Etwas irritiert und gleichzeitig gerührt über die erneute unaufgeforderte Großzügigkeit, nahm ich das Angebot dankend an, legte meinen Rucksack ab und trat in die Stube ein. Es war ein altes, selbstgebautes und niedriges Haus, mit einer mittelgroßen alten Küche, einer länglichen Stube, in der sich ein langer und großer Tisch befand. Als ich mich an den Tisch setzte, kamen sofort die Omas und Mütter um mich herum gewuselt und stellten eine ordentliche Portion Abendessen vor mir auf den Tisch. Ruckzuck standen da ein Teller voll Hähnchenfleisch mit Reis und Gemüse, eine Hühnersuppe, ein schwarzer Tee, Nachtisch und viele Süßigkeiten und Cola Flaschen. Alle saßen um mich herum am Tisch und wünschten mir einen guten Appetit und sagten mir, dass ich ohne Scheu zugreifen soll. Die Frauen und Männer schauten mich alle neugierig an und wollten vieles von mir wissen. Sie wollten natürlich von meinem Abenteuer und Vorhaben wissen und ich erzählte ihnen ausgiebig von meiner Weltreise, meiner Passion und dass ich mit vollem Herzen Bergsteiger bin. Sie hörten mir aufmerksam und gespannt zu und zugleich wollten sie aber auch mehr über Deutschland erfahren. Sie fragten mich, ob die Propaganda, die sie im eigenen Land über den Westen und den Krieg hören, der Wahrheit entspricht. Ob in Deutschland wirklich alle Menschen frieren müssen und ob unsere Wirtschaft und unsere Industrie tatsächlich am Boden sind und wie wir Deutschen zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine stehen. Wie man merkt, ist es in diesen Zeiten kaum möglich, diese Themen zu ignorieren oder zu umgehen, denn die russischen Bürger beschäftigt dieses Thema sehr stark und sie sind voller Unsicherheit in diesen turbulenten Zeiten. Ich erklärte ihnen, dass ich natürlich nicht repräsentativ für alle Deutschen sprechen kann und erklärte ihnen meine Wahrnehmung und meinen Blick auf die Dinge. So wie ich es persönlich wahrnehme, wie es in unseren Medien berichtet wird und den Eindruck, den ich habe, wie die Gemengelage bei den deutschen Bürgern im Land zu sein scheint. Ich bemühte mich dabei, ihnen ein möglichst transparentes sowie faktisches und unemotionales Bild zu zeichnen, wie die Perspektive der Deutschen derzeit ist. Ich sage unemotional und gleichzeitig erklärte ich ihnen, dass uns dieser Konflikt trotzdem emotional sehr berührt. Wir uns ein baldiges Ende der Auseinandersetzungen wünschen und nicht verstehen , wie zwei verbrüderte Völker sich gegenseitig bekriegen können. Ich bin in der Unterhaltung auch auf eine makroskopische Betrachtung zwischen Nato und Russland eingegangen, sehe aber davon ab, an dieser Stelle weiter auf dieses Thema einzugehen. Solltet ihr an den Details der Unterhaltungen interessiert sein und wie die tatsächliche Lage und Haltung vor Ort im Kaukasus ist, dürft ihr mir gerne dazu etwas in die Kommentare schreiben oder mich persönlich kontaktieren. Gerne schildere ich euch, wie die Menschen sich vor Ort tatsächlich fühlen und darüber denken, denn fast alle von ihnen haben mir ihre Haltung, wenn auch vorsichtig, offenbart. Nach einer Weile und einigen Telefonaten sagte mir mein Gastgeber, dass morgen früh um 06:30 Uhr jemand vorbei kommen wird und mich mit einem Jeep mit nach Dschili Su nimmt und sie darauf bestehen, dass ich heute Nacht im Gästezimmer der Familie schlafe. Eine der Omas machte mir noch ein großes "Care Paket” für den Weg zurecht mit Brot, Getränken, Schokoriegeln, Bananen, Äpfeln und vielem mehr. Ich bedankte mich unzählige Male für die Selbstlosigkeit, die Großzügigkeit und die Gastfreundschaft. Ich hatte mit vielem gerechnet aber nicht damit und ich kann euch sagen, während ich gerade diese Zeilen schreibe und mich daran zurück erinnere bekomme ich wieder Gänsehaut am Körper und glasige Augen, denn diese Hilfsbereitschaft rührt mich so sehr und bestätigt meinen unbedingten Glauben daran, dass der Mensch und die Welt im Kern gut sind und kein einziger Mensch mit bösen Absichten auf die Welt kommt. Ich glaube etwas naiv und doch ganz realistisch daran, dass die Menschheit, bei all den Abgründen, die sich manchmal auftun, gut und lernfähig ist und auch, wenn wir im Begriff sind uns selbst zu zerstören bin ich davon überzeugt, dass wir am Ende aus unseren Fehlern lernen werden und die Menschheit als Ganzes voran in eine gute Zukunft führen werden. Davon bin ich überzeugt und ich würde gerne meinen kleinen Beitrag in welcher Form auch immer dazu leisten. Nachdem wir uns alle, etwa zwanzig Personen aus allen Altersgruppen von 10 bis 90 Jahren, lange bis spät in die Nacht ausgetauscht hatten, gingen wir zu Bett und legten uns schlafen.

Am nächsten Morgen wachte ich um 05:30 Uhr auf und bereitete meine Abreise vor. Es war noch dunkel und kalt draußen und der Vater, sein Sohn und der Großvater des Hauses saßen zusammen mit mir in der Küche am Herd und wir tranken gemeinsam den ersten Kaffee des Tages, während wir uns noch ein wenig unterhielten und auf meine Mitfahrgelegenheit warteten.

Früher als erwartet kam meine Mitfahrgelegenheit an, denn ein großer, moderner, russischer Jeep stand plötzlich draußen auf der Straße. Ein junger, ca. 30-Jähriger gut gelaunter Mann namens Ramasan, der sich selbst wohl eher als Karatschaier und nicht als Russe bezeichnen würde, kam aus dem Jeep gesprungen und begrüßte mich herzlich. In dem Jeep saßen drei Russinnen im gleichen Alter wie Ramasan, die aus der Region Moskau und eine von ihnen aus Jekaterinburg kamen. Sie begrüßten mich alle und freuten sich über die zusätzliche Gesellschaft, denn auch sie machten gerade Urlaub im Kaukasus, da, wie bereits erwähnt, russische Bürger derzeit kaum woanders auf der Welt ihren Urlaub verbringen können. Ich verabschiedete mich vielmals von meinen großherzigen Gastgebern, wünschte ihnen alles Gute für die Zukunft und setzte mich zusammen mit meinem Rucksack auf die hinterste Rücksitzbank des Jeeps. Wir fuhren eine ganze Zeit lang gewundene Straßen Bergauf und Bergab, bis wir ein Hochplateau erreichten, auf dem die Sonne nach einem beeindruckenden Sonnenaufgang die etwas karge und kalte Landschaft erhellte.


Dieser Anblick erwärmte buchstäblich mein Herz und mein Gemüt, und meine Vorfreude stieg stetig an, denn die Szenerie war atemberaubend und ich näherte mich unaufhaltsam dem Elbrus, dem Objekt meiner Begierde.

Wir hielten an einigen Aussichtspunkten an und machten gemeinsam ein paar Bilder, tranken Tee, bestaunten die Landschaft, tanzten zu kaukasischer Musik, unterhielten uns über alle möglichen Themen, bestaunten den Elbrus, der immer wieder direkt vor uns thronte und verbrachten eine tolle gemeinsame Zeit zusammen, während wir uns dem Dach des Kaukasus näherten.

Die Aufschrift bedeutet: Das Glück ist nicht auf den Gipfeln der Berge, sondern “in” den Bergen.

Dieser Blogbeitrag ist bereits sehr lange, weshalb ich die Bilder und Videos dieser Szenerie für sich sprechen lasse.




Ramasan fragte mich, ob es denn in Ordnung ist, dass wir immer wieder anhalten, denn er wusste, dass ich den Elbrus besteigen will. Ich sagte ihm er soll sich keine Gedanken machen, denn ich habe heute nur vor das Basecamp zu erreichen und mein Lager aufzustellen und eventuell mache ich noch einen kleinen Akklimatisierungsspaziergang. Ich erklärte ihm, dass ich einfach nur froh darüber bin, dass er mich für den günstigen Preis mitnimmt und dass ich die gemeinsame Zeit genieße und wir uns gerne so viel Zeit lassen können wie wir wollen. Wir stiegen wieder ins Auto und fuhren weiter, während der Elbrus sich immer gigantischer und mächtiger vor uns mit seiner riesigen vergletscherten Kuppe zeigte. Die vier bekamen bei dem Anblick nun plötzlich ein reales Gefühl dafür, was mein Vorhaben in der Praxis bedeutet, dass ich mich ganz alleine ohne Unterstützung in diese Höhe und lebensbedrohliche Umgebung vorwagen werde. Sie fingen an mich über den Berg, meinen Stil und mein Vorhaben auszufragen, denn sie konnten nicht verstehen, warum ich mich dieser Gefahr so willentlich und freudig aussetzte. Ramasan erklärte den Mädels, wie gefährlich der Berg sei und wie regelmäßig dort Menschen jedes Jahr ums Leben kommen. Alle vier machten sich immer mehr Sorgen, je näher wir dem Berg kamen und fragten mich mehrmals, ob ich das wirklich machen möchte. Endlich in Dschili Su angekommen, hörten sie von den Wetteraussichten der nächsten Tage, den Temperaturen dort Oben und erfuhren von den hohen unerbittlichen Windgeschwindigkeiten, die dort derzeit herrschen. Ramasan meinte, die Bergführer würden mich gar nicht erst dort hinauf lassen und ich solle mein Vorhaben doch lieber überdenken. Er fragte mich mehrmals, ob ich nicht doch wieder mit zurück fahren möchte, aber ich erklärte ihnen sehr einfühlsam, dass ich genau weiß worauf ich mich da einlasse und dass ich erfahren genug sein müsste, mit der Situation entsprechend umgehen zu können. Sie bestanden darauf, dass wir kontakte austauschen und dass ich sie bitte darüber informieren soll, wenn ich nach fünf Tagen wieder zurück vom Gipfel bin, da sie sonst die Bergwacht informieren würden, wenn sie nichts mehr von mir hören. Sie waren offensichtlich sehr besorgt. Nachdem ich aus dem Jeep ausgestiegen bin, wollte ich Ramasan gerade für die Fahrt bezahlen und ihm für die tolle Zeit danken. Er sagte mir, dass er ein Geschenk für mich hätte, denn er hat mich von Anfang an kostenlos mitgenommen und möchte für die Fahrt kein Geld annehmen. Er sagte, dass das von Anfang an seine Intention war, als sein Kumpel ihn gestern anrief und nachdem er mich heute morgen kennengelernt hatte. Ich solle es als Zeichen seines Wohlwollens, seiner Unterstützung und seiner Gastfreundschaft sehen. Erneut begegnet man mir mit dieser selbstlosen und unerwarteten Großzügigkeit und ich kann euch verraten, dies war noch nicht das Ende der großzügigen Unterstützung, die ich alleine in Russland auf dieser Reise erfahren werde, während sich die Menschen in meiner Heimat um mich und meine Sicherheit in Russland sorgen. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile gemeinsam und wanderten zusammen in der Nähe von Dschili Su zu einer heißen Quelle und dem Wasserfall, bis ich mich letztendlich von ihnen verabschiedete und mich weiter auf den Weg zum Basecamp machte.

Ich verabschiede mich von Ramasan sowie den drei russischen Mädels und winke ein letztes Mal, während ich mit meiner Ausrüstung den Fluss überquere und den ersten Anstieg nehme. Sie blicken mir besorgt hinterher, während ich fest entschlossen zur ersten Anhöhe hinauf steige, mein nächstes Ziel fest vor Augen, die Emanuelle Wiese auf der nördlichen Seite des Berges, wo ich mein Basecamp errichten werde, um mich die nächsten Tage für die Gipfelbesteigung des Elbrus zu akklimatisieren.


Im zweiten Teil des Blogeintrages der Elbrus Besteigung erzähle ich euch davon, welche Herausforderungen und Umstände mir bei meiner einsamen Solo-Besteigung über die Nordseite des Berges wiederfahren!


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