An diesem Morgen werde ich durch meine Uhr am Handgelenk geweckt, denn ich hatte den Wecker so eingestellt, dass ich kurz nach Sonnenaufgang aufwache. Ich wollte einfach frühzeitig mein Zelt abbauen, damit ich nicht in einen eventuellen Konflikt mit dem Hüttenwirt komme, der von der Tatsache, dass ich direkt bei ihm ums Eck zelte, womöglich nicht begeistert ist. Davon abgesehen, wollte ich generell früher wach sein, um den Tag besser nutzen zu können und, damit ich nicht zu spät an meinem Ziel ankomme, um abends noch in Ruhe schreiben zu können. Draußen vor dem Zelt höre ich schon wieder die ersten Wanderstöcke auf den Felsen und das Geräusch von Geröll durch das Lostreten der Passanten. Der Fluss des großen schmelzenden Ötztaler Gletschers über mir ist kaum zu überhören. In der Ferne über mir ertönt auch ein merkwürdiges Poltern und ich bin zunächst irritiert, woher dieses Geräusch kommen könnte. Bei solchen Geräuschen sollte man in den Bergen gleich hellhörig werden, denn Felsabgänge sind in den bröckelnden Alpen keine Seltenheit, sondern eher die Regel und können durchaus tödlich enden. Ich blicke hoch zum Gletscher, um zu sehen, ob es einen größeren Fels- oder Eisabgang gegeben hat. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, wie zwei Bagger auf dem Gletscher arbeiten und womöglich schon den Untergrund für die kommende Skisaison vorbereiten.
Ich packe meine Ausrüstung zusammen und winke gelegentlich den Bergsteigern zurück, die mich an diesem Morgen entdecken und mir aus der Ferne einen “Guten Morgen” gestikulieren.
Nachdem meine gesamte Ausrüstung im Rucksack verstaut ist, wuchte ich mir das schwere Paket auf meine Schultern und mache mich an den erneuten Aufstieg hinauf zum Pitztaler Jöchl. Auf meinem Weg nach oben treffe ich Jan und Flo, mit denen ich abends zuvor schon zusammen in der Hütte beim Essen saß. Wir haben uns auf dem Weg nach oben gut unterhalten, wodurch uns der Aufstieg sehr kurzweilig erschien. Es war eine schöne, felsige, etwas abschüssige Passage, die in guter Steigung kontinuierlich zum Joch hinauf führte.
Es fühlt sich gut an, gleich am Morgen seinen Körper zu bewegen und seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Es hat etwas sehr Beruhigendes und Elementares, manchmal fast schon meditatives und man denkt einfach nur an den nächsten Schritt und die wunderschöne Umgebung um sich herum. Man verschwendet keine Gedanken an Existenzängste, Sorgen, Groll oder sonstige Versäumnisse. Man ist einfach nur seelenruhig und zufrieden mit sich selbst und genießt die warme Sonne und den frischen Wind auf der Haut und im Gesicht.
Links an der Flanke steigen wir langsam aber sicher zum Pitztaler Jöchl hinauf.
Ein Blick zurück zeigt die großen Gletscherfelder und Gletscherzungen, wie sie ins Tal hinein reichen und sich über Jahrmillionen durch den Fels bewegen und dabei erodieren. Im nächsten Winter ist hier wieder alles schneeweiß und meter hoch mit dem kalten Element bedeckt. Und so wiederholt sich dieser Prozess seit vielen Jahrtausenden, wesentlich länger als wir existieren und lange bevor es unsere verschwindend kleinen Sorgen bereits gab.
Vor etwa 135 Millionen Jahren, zu Beginn der Kreidezeit, startete der komplexe, mehrstufige Entstehungsprozess der Alpen. Vereinfacht beschrieben öffnete sich der Atlantik immer weiter, wodurch der afrikanische Kontinent die Adriatische Platte nordwärts immer weiter in Europa hinein bewegte. Diese Bewegung fand vor schätzungsweise 35 Millionen Jahren statt. Dadurch wurde diese wunderschöne Formation, die wir heute bestaunen dürfen, geformt. Der Prozess war vor etwa 5 Millionen Jahren weitestgehend abgeschlossen, hält aber bis heute weiterhin an, denn die Platten bewegen sich noch immer in diese Richtung, jedoch nicht mehr ganz so schnell.
Dort oben erwartete uns eine warme, goldene Morgensonne, die uns für diesen neuen, anstehenden Tag willkommen heißt.
Von hier oben quert man nochmal eine leicht ausgesetzte felsige Passage, bis man den höchsten Punkt erreicht.
Kurz vor diesem Joch treffe ich eine etwas ängstliche junge Frau, die sich ein wenig Sorgen wegen dieser Passage macht und sich mental auf diese Hürde vorbereitet. Ich spreche ihr Mut zu und erkläre ihr, dass die Dinge erfahrungsgemäß aus der Ferne immer schlimmer aussehen, als sie es letztendlich sind und dass es meistens unser Kopf ist, der das Hindernis viel schwieriger erscheinen lässt.
Meinen Rucksack und das schwere Gewicht? Spüre ich kaum noch. Ich freue mich nur auf diesen Aufstieg!
Es ist ein wenig Vorsicht geboten und man sollte sich konzentrieren, wenn man man hier entlang geht und nicht besonders trittsicher ist.
Und wer hätte es gedacht? Sie war am Ende dieses exponierten Abschnittes direkt hinter mir und hat die Passage problemlos gemeistert.
Manche stellen sind mit Ketten und Drahtseilen versichert, um mehr Sicherheit zu bieten.
Nur noch wenige Meter, dann ist der erste Anstieg für den heutigen Morgen geschafft.
Ich nehme euch natürlich wie immer die letzten Meter hinauf auf den Sattel mit, damit ihr ein wenig nachvollziehen könnt, wie sich das anfühlt!
Und hinüber über den Sattel! Ich bin gespannt, welcher Anblick uns dort erwartet!
Am höchsten Punkt angekommen, bietet sich mir ein merkwürdiger und bizarrer Anblick, als ich in das nächste Tal hinab schaue.
Ich erblicke einen nagelneuen, riesigen, betonierten und asphaltierten Komplex aus Straßen, Parkplätzen und einer gigantischen Liftanlage in der unwirklichen, felsigen und zum Teil noch vergletscherten Landschaft.
Und daneben trotzdem rauhe, wunderschöne und wilde Felsformationen.
Die Sonne hat an diesem Morgen eine ganz spezielle Farbe und kreiert damit eine unbeschreibliche Atmosphäre. Man merkt eindeutig, dass der Sommer vorbei ist und der Herbst vor der Tür steht!
Ein kurzer Blick zurück zur Braunschweiger Hütte und den kleinen "Teich" an dem ich genächtigt habe.
Und ewig ziehen die Wolken wunderschön über die Gipfel, während sie im Sonnenlicht stehend ihre Schatten hinab ins Tal werfen. Es wird nie langweilig und ich liebe jeden dieser Anblicke.
Wir befinden uns auf 2961m über dem Meeresspiegel an diesem Morgen. Übrigens habe ich erwähnt, dass diese Uhr einfach der absolute Wahnsinn ist?
Das ist wohl das Skigebiet Sölden am gleichnamigen Gletscher. Künstliche Auffangbecken und bizarr anmutende Wasserreservoire wurden hier durch ein Paradebeispiel von Geoforming geschaffen. Dazu mussten wohl Millionen Kubikmeter Material bewegt werden. Ich fahre natürlich auch gerne Ski, aber was für einen gigantischen Wahnsinn wir Menschen teilweise betreiben und somit unsere Natur, als auch die Umwelt nachhaltig schädigen, einfach nur um noch mehr Geld zu verdienen, ist für mich teilweise unbegreiflich. Nun denn, steigen wir mal hinunter zu diesem Gebilde. Direkt am Beginn des Abstiegs staut es sich an einer steilen, seilversicherten Passage, die für die meisten Überquerer nur mit dieser Hilfestellung und einzeln nacheinander überwunden werden kann.
Anschließend geht es noch im Gänsemarsch einige Höhenmeter hinab durch Fels und Geröll, bis wir schließlich an diesem merkwürdigen Bauwerk angelangt sind.
Von hier aus nimmt man üblicherweise kurz für fünf Minuten einen Linienbus, der durch einen langen Felstunnel hinüber zum anderen gigantischen Ski Komplex fährt.
Der Tunnel darf zu Fuß nicht durchquert werden. Alternativ kann man diese Passage, indem man oberhalb des Tunnels entlang des Seiterkars zum Seiter Jöchl wandert, überqueren.
Nach einem kurzen, nicht gerade ansehnlichen Aufstieg verlassen wir das Skigebiet und befinden uns auf der tollen und sehr langen Abstiegsroute hinunter ins Ötztal nach Vent.
Flo, Jan, Hannah, Nicklas und ich, als wir uns aufmachen das Skigebiet zu verlassen. Wir haben uns alle auf dieser Wanderung nun schon so oft getroffen und immer wieder Gespräche geführt und Gedanken miteinander ausgetauscht, dass fast schon eine gewisse Vertrautheit oder ein Gefühl von Gemeinschaft zwischen uns E5 Alpenüberquerern entstanden ist. Das ist wohl auch nur natürlich, wenn man fast eine Woche jeden Tag gemeinsam aufsteht, frühstückt die gleichen Anstrengungen und Entbehrungen teilt und abends beim Abendessen beisammen sitzt. Sich in den Waschräumen begegnet und man schlussendlich mehr oder weniger zur gleichen Zeit ins Bett geht.
Also steigen wir alle gemeinsam langsam aber sicher nach Vent hinab und erfreuen uns an gemeinsamen Gesprächen, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ideen. Nicklas fragt mich beispielsweise, was ich von Wanderstöcken halte, da ich bei dieser Wanderung Stöcke verwende und er selbst mit seinen Stöcken aber nicht wirklich zurechtkommt, bzw. keinen Mehrwert für sich darin fühlt, wenn er sie verwendet. Ich erzähle ihm, dass ich den Einsatz, je nach Situation durchaus sinnvoll finde, ich jedoch ein Fan davon bin, im Fels und mit leichtem Gepäck ohne Wanderstöcke zu laufen, um die eigene Balance, die Gelenke und die Sehnen zu trainieren. Es ist schlussendlich jedoch eine sehr situative und individuelle Entscheidung, die jeder selbst treffen muss.
Hannah, Nicklas und ich spielen während des Abstiegs ein lustiges Spiel oder eher gesagt ein Podcast Format, bei dem man extrem bizarre Fragen gestellt bekommt und jeder diese Fragen entsprechend seiner Meinung nach beantworten muss. Es hilft enorm dabei, sich gegenseitig besser kennenzulernen, den anderen zu verstehen, es ist extrem lustig und lässt den Abstieg sehr kurzweilig erscheinen. Wir hatten jedenfalls unseren Spaß dabei.
Nach einer Weile spüre ich ein riesiges Loch in meinem Bauch und merke, dass ich extrem hungrig bin. Glücklicherweise gab mir Jan noch zwei seiner Müsliriegel, denn ich hatte mittlerweile ziemlich großen Hunger und hatte einfach nichts mehr dabei. Ohne ihn hätte ich hungrig bis ins Tal hinab steigen müssen.
Es ist ein sehr schöner, ausgedehnter Abstieg mit vielen Windungen und gelegentlichen Aufstiegen, die dem Weg dadurch einen ganz speziellen Charakter verleihen und immer wieder einzigartige Anblicke bieten.
Ich spüre in mir den Drang, das Tempo zu erhöhen, da mir so der Abstieg meist leichter fällt und sich für mich persönlich angenehmer anfühlt. Ich zurre also den Rucksack fest an meinen Körper und schieße den Weg hinunter.
Ich überhole all die bekannten Wanderer der vorherigen Tage, die den Anblick kaum fassen können und springe vergnügt weiter wie eine Bergziege mit meinem riesigen Rucksack auf den Schultern die steinernen Passagen hinab. Die Sauerländer staunen und auch Rosario und Christoph können ihren Augen kaum trauen, als sie mich da so hinab düsen sehen. "Mensch was der für eine Trittsicherheit mit dem riesen Gepäck hat" amüsiert sich Rosario. Ivan aus dem Sauerland schüttelt nur den Kopf und sagt, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe!
In Vent unten angekommen suche ich ein Restaurant auf und bestelle mir eine große Portion Pommes und eine herrliche, gekühlte Holundersaftschorle. Ich hatte einen riesigen Hunger, da ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts gefrühstückt oder gegessen hatte. Lediglich zwei kleine Müsliriegel, die ich auf dem Weg nach unten von Jan bekommen hatte, kurz bevor ich meinen Abstiegsturbo eingelegt hatte.
Nach einer Weile kamen nun auch Jan und Flo ins Dorf hinunter und setzten sich zu mir an den Tisch. Wir saßen ziemlich lange zusammen und haben uns richtig gut unterhalten, bis wir irgendwann zu der Einsicht kamen, dass wir uns langsam wieder auf den Weg machen sollten, denn es ist noch einmal ein langer Anstieg zur Martin Busch Hütte. Da ich, wie bereits erwähnt, kaum noch Proviant und Verpflegung bei mir hatte, ging ich noch kurz im Ort in einen überteuerten Sport- bzw. Supermarkt einkaufen und besorgte mir ein paar Nüsse, sowie Müsli- und Proteinriegel.
Kurz bevor ich mich wieder aufmache, zur nächsten Hütte aufzusteigen, leere ich noch die halb gefüllte Trinkblase, die noch dreiviertel voll mit dem Leitungswasser der Braunschweiger Hütte war. Ich hatte mir dieses Wasser nur widerwillig mit einem unguten Gefühl, notgedrungen, mitgenommen. Zurecht, wie sich später noch herausstellen sollte.
Der Aufstieg zur Martin-Busch-Hütte ist ca. 8 km lang, gewinnt stetig, aber nie steil an Höhe und läuft ziemlich geradlinig und unspektakulär am Fluss entlang. Die Aussicht ist für meine Begriffe schön, aber nicht spektakulär.
Es ist bereits am etwas späteren Nachmittag und es wird sehr still um mich herum.
Ich genieße die Ruhe und die Stille und setze zufrieden einen Fuß vor den anderen und genieße dabei die Landschaft und die Aussicht. Nicht nur das, sondern einfach die Tatsache ,in diesem Moment hier sein zu dürfen, gesund, lebendig, vital und dankbar für die Möglichkeit ,dass ich gerade sorgenfrei die wundervollen Alpen überqueren darf.
Wir haben noch einiges an Weg, Kilometern und Höhenmetern vor uns!
Aber wir kommen dem Ziel mit jedem Schritt ein Stück näher! Viele kleine Schritte ergeben am Ende eine große Leistung.
Hey, warum siehst du mich so argwöhnisch an?
Unterwegs treffe ich drei Mädelsgruppen, die jeweils schon eine Mitstreiterin unterwegs verloren hatten, da sie sich entschieden haben die Tour vorzeitig abzubrechen. Jedenfalls ging es einigen, um nicht zu sagen, fast allen dieser jungen Damen hundsmiserabel. Ihnen war schlecht und übel und manche mussten sich bereits übergeben. Ich bot ihnen meine Hilfe an, denn ich habe bei größeren Unternehmungen immer eine kleine Reiseapotheke dabei. Zuletzt hatte ich diese mit Tabletten gegen Übelkeit und gegen bakterielle Infektionen erst erneuert, als ich zum Jahreswechsel 2021 auf 2022 den Kilimandscharo in Tansania bestiegen hatte. (Wollt ihr über Tansania und den Kilimandscharo auch einen Blog Eintrag lesen? Wenn ja gebt mir Bescheid, dann schreibe ich diesen Blog für euch!) Etwas zu Essen oder frisches Wasser wollten Sie auch nicht von mir, also konnte ich leider nicht viel für sie tun.
Ich ging weiter den Weg hinauf und traf erneut auf eine Gruppe, der es ziemlich beschissen erging und ebenfalls mit Übelkeit und Brechreizen kämpfte. Da schien sich also etwas anzubahnen.
Nach einer Weile kam ich an der Martin-Busch-Hütte an, wo ich bereits von Tommy und Steffen, die auf der Terrasse standen, begrüßt wurde.
Tommy rief zu mir hinunter und lud mich gleich auf ein kühles Weizen ein. Selbstverständlich nahm ich die Einladung der Jungs aus Zwickau dankend an und legte sogleich meinen Rucksack im Eingangsbereich der Stube ab.
Ich schnappte mir ein paar Crocs, die üblichen Hausschuhe, die man auf einer Hütte trägt, denn es wird gar nicht gerne gesehen, dass man mit den Bergschuhen in die Stube kommt oder überall herumspaziert und ging hinaus auf die Terrasse, um meine Belohnung für die Absolvierung der heutigen Tagesetappe abzuholen.
Wir stießen gemeinsam auf den erfolgreichen Tag an und tranken gemeinsam unser Weizen auf der Holzterasse der Martin-Busch-Hütte mit Blick auf die umliegenden Gipfel und Gletscher und erfreuten uns an der allmählich untergehenden Sonne. Die beiden erzählten mir, dass ihr Freund bereits im Matratzenlager liegt und schläft, da es ihm ebenfalls nicht gut ging. Wir unterhielten uns noch recht lange auf der Terrasse und die Jungs drückten mir ihre Begeisterung und Anerkennung für meine kontinuierliche Hartnäckigkeit aus, die sie in den letzten fünf Tagen an mir beobachten konnten, weil ich jeden Tag mit diesem riesigen schweren Rucksack, energiegeladen die Etappen mit einem breiten Grinsen absolviere. Darüber hinaus erzählten Sie mir, dass Sie die Beweggründe meiner Reise gut nachvollziehen könnten und mein Vorhaben einfach unbeschreiblich toll finden und mir das Beste für diese mutige Unternehmung wünschen. Mit der untergehenden Sonne wurde es zunehmend kälter draußen auf der Terasse und wir entschieden uns hinein in die warme Stube zu gehen, wo bereits damit begonnen wurde, das Abendessen zu servieren.
Auf dem Gang vor der Stube waren immer mehr "Kranke" gesessen, denen es nun extrem schlecht ging vor Übelkeit. Tommy lud mich erneut zum Abendessen ein, weil der dritte in ihrem Bunde leider aufgrund von Übelkeit nicht zum Abendessen erscheinen konnte und er die Portion nicht verfallen lassen wollte. Die Jungs scherzten noch und Tommy meinte zu Steffen: "Dann müssen wir uns heute Abend halt nur zu zweit die Rüstung verbiegen”. Ich musste laut lachen, denn diese Redewendung für “sich betrinken” hatte ich so auch noch nicht gehört und war mal wieder typisch für den ostdeutschen Humor. Es gab als Vorspeise eine Suppe, anschließend Spaghetti Bolognese und zum Nachtisch Joghurt.
Währenddessen beobachtete ich ein reges Treiben am Eingangsbereich zur Stube. Rosario aus Ecuador, die Mutter von Christoph, kam mit einem grünen Eimer raus und wieder rein, denn auch ihr Sohn, der sonst die ganzen Tage über extrem fit unterwegs war, musste sich an diesem Abend bereits übergeben. Gleichzeitig liefen mehrere Gefährten der kranken Wanderer mit mehreren Kannen Kamillentee hinaus auf den Gang und hoch in die Matratzenlager, um für ihre Freunde zu sorgen.
Tommy, Steffen und ich spürten langsam, dass wir nun sehr sehr müde wurden und entschieden uns, um 19:30 Uhr, dass wir heute frühzeitig schlafen gehen sollten. Wir stehen gemeinsam auf und verabschieden uns voneinander. Nun spüre auch ich, wie es langsam in meinem Magen rumort und merke, wie mir förmlich die Energie aus dem Körper entschwindet. Ich verlasse die Stube, als mich Jan kurz aufhält und mich fragt, ob ich mich noch ein bisschen zu ihnen an den Tisch setzen möchte und mich auf ein Glas Schnaps gemeinsam mit ihnen einladen lasse. Ich finde die Geste absolut nett und entschuldige mich aber gleichzeitig bei Jan, dass ich die Einladung normalerweise sehr gerne angenommen hätte, aber sagte ich: “Ich bin heute Abend ziemlich platt und müde und muss die Einladung leider ablehnen”. Ich hole mir beim Hüttenwirt eine Duschmarke und steige anschließend die Treppen hinauf, um die Waschräume zu suchen. Ich spüre nun immer deutlicher, dass mit mir irgendetwas gar nicht stimmt, während ich gerade mein Waschprogramm absolviere. Nachdem die drei Minuten Duschzeit um sind, renne ich direkt auf die Toilette nebenan und als ich da auf der erlösenden, weißen Keramik-Schüssel saß, bemerkte ich, dass ich einen heftigen Durchfall hatte. “Naja, wenn das alles im Vergleich zu den anderen ist”, denke ich mir so, “dann kann ich ja eigentlich beruhigt sein”. Ich werde mit jeder Minute immer schwächer und zwinge mich, nachdem ich mich wieder angezogen hatte, nach draußen in die Dunkelheit, um ein Stück weiter Bergauf einen geeigneten Schlafplatz für die Nacht zu finden.
Im Gang sitzt auch Hannah, die total erschöpft über einer Tasse Kamillentee hängt und den tränen nahe ist. Ich wünsche ihr gute Besserung und hoffe, dass es ihr bald wieder besser geht. Völlig energielos ziehe ich mir meine Schuhe an und setze mir unter größter Anstrengung den Rucksack auf die Schultern. Es ist nun sehr kalt hier draußen und ich stapfe in der Dunkelheit einen Weg den Berg hinauf. Das Gelände ist sehr abschüssig und in der Finsternis finde ich, während ich mich im “Notmodus” befinde, kaum einen geeigneten Platz. Ich schaue immer wieder links und rechts. Den Hang rechts hinauf und links hinab, aber kaum etwas geeignetes ist in Sicht. Endlich! Etwas unterhalb von mir neben einem großen Fels linkerhand des Weges erkenne ich eine einigermaßen flache Stelle. Mit letzter Kraft erreiche ich die Stelle, lege meinen Rucksack ab und lege mich erschöpft in das 30 cm hohe Gestrüpp. Ich atme schwer, mein Herz pocht stark und es fühlt sich an, als würde meine Bauchspeicheldrüse vibrieren oder zittern. Alle viere von mir gestreckt lag ich für eine kurze Weile so da, bis ich mich dazu aufraffen konnte, mit dem Aufbau meines Zelts zu beginnen. Auf allen vieren krabbele ich zu meinem Rucksack und schnalle das Zelt unterhalb der Deckeltasche ab. Ich kniete vor der suboptimalen flachen Stelle am Boden, die jedoch besser ist als alles andere, was ich entdecken konnte, und breite das Zelt vor mir so gut es irgendwie ging so aus, damit ich die Nacht nicht total schräg im Zelt liege. Ich lasse mich total ausgelaugt wieder nach hinten ins Gestrüpp fallen und bleibe ein paar Minuten so liegen. Ich raffe mich immer wieder auf, bastele das Zeltgestänge zusammen und spanne es, in der Hoffnung, dass es zufällig richtig herum war mit dem Zelt zusammen. Das war es natürlich nicht, aber das ist mir jetzt auch total egal. Dann bleibt es heute Nacht eben so krumm. Hauptsache das Ding steht irgendwie und ich kann mich endlich hinein legen. Was kommt als nächstes dran? Ach ja, meine Isomatte aufblasen. Danach? Schlafsack auspacken und im Zelt ausrollen. Na gut. Mit Ach und Krach erledige ich diese einzelnen Aufgaben und stehe noch ein letztes Mal auf und gehe um das Zelt herum, um es mit meinen Wanderstöcken zu fixieren. Die Heringe spare ich mir. Endlich bin ich fertig! Ich bin, gefühlt total im Eimer und am Ende, krieche ins Zelt, ziehe die Reißverschlüsse links und rechts zu und lege mich in meinen Schlafsack. Sobald ich meinen Körper in die Horizontale bewege, spüre ich plötzlich einen altbekannten metallischen Geschmack, wie er sich in meinem Mund unter großer Speichelansammlung bildet. Ich kenne dieses Anzeichen nur zu gut von meinen Migräneanfällen, die ich in meiner Jugend öfters hatte. Und ich weiß auch, dass das, was nun als nächstes folgt, nicht aufzuhalten ist. Ich reiße in letzter Geistesgegenwart den Reißverschluss des Innenzeltes auf und speie die Spaghetti Bolognese nahezu unverdaut in mein Vorzelt. Ein Glück denke ich mir: “Die Sauerei hätte ich im Zelt nun wirklich überhaupt nicht gebrauchen können." Meine Muskelreflexe würgen noch etwa vier Mal den letzten Mageninhalt aus mir heraus, um sicherzustellen, dass alles, was da nicht hinein gehört, aber auch wirklich alles raus ist. “Ach man, hoffentlich stinkt das Zeug jetzt nicht die ganze Nacht da draußen vor dem Zelt und ich habe auch noch den sauren Geruch permanent in der Nase.” Denke ich mir. Glücklicherweise war das Essen kaum verdaut und es war sehr kalt draußen, weshalb dieser unschöne Nebeneffekt für die Nacht ausblieb. Nachdem mein Magen nun entleert ist, lasse ich mich völlig fertig in meinen Schlafsack auf meiner Isomatte sinken und falle in einen sehr merkwürdigen Schlaf. Ich werde in der Nacht immer wieder wach und muss austreten, da mein Magen weiterhin rumort. Kurz gesagt, ich habe eine äußerst beschissene Nacht, die mir kaum Erholung bringt. Hoffentlich geht es mir morgen früh etwas besser…
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