top of page

Alpenüberquerung E5 von der Braunschweiger Hütte zur Martin-Busch-Hütte.


An diesem Morgen werde ich durch meine Uhr am Handgelenk geweckt, denn ich hatte den Wecker so eingestellt, dass ich kurz nach Sonnenaufgang aufwache. Ich wollte einfach frühzeitig mein Zelt abbauen, damit ich nicht in einen eventuellen Konflikt mit dem Hüttenwirt komme, der von der Tatsache, dass ich direkt bei ihm ums Eck zelte, womöglich nicht begeistert ist. Davon abgesehen, wollte ich generell früher wach sein, um den Tag besser nutzen zu können und, damit ich nicht zu spät an meinem Ziel ankomme, um abends noch in Ruhe schreiben zu können. Draußen vor dem Zelt höre ich schon wieder die ersten Wanderstöcke auf den Felsen und das Geräusch von Geröll durch das Lostreten der Passanten. Der Fluss des großen schmelzenden Ötztaler Gletschers über mir ist kaum zu überhören. In der Ferne über mir ertönt auch ein merkwürdiges Poltern und ich bin zunächst irritiert, woher dieses Geräusch kommen könnte. Bei solchen Geräuschen sollte man in den Bergen gleich hellhörig werden, denn Felsabgänge sind in den bröckelnden Alpen keine Seltenheit, sondern eher die Regel und können durchaus tödlich enden. Ich blicke hoch zum Gletscher, um zu sehen, ob es einen größeren Fels- oder Eisabgang gegeben hat. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, wie zwei Bagger auf dem Gletscher arbeiten und womöglich schon den Untergrund für die kommende Skisaison vorbereiten.

Ich packe meine Ausrüstung zusammen und winke gelegentlich den Bergsteigern zurück, die mich an diesem Morgen entdecken und mir aus der Ferne einen “Guten Morgen” gestikulieren.

Nachdem meine gesamte Ausrüstung im Rucksack verstaut ist, wuchte ich mir das schwere Paket auf meine Schultern und mache mich an den erneuten Aufstieg hinauf zum Pitztaler Jöchl. Auf meinem Weg nach oben treffe ich Jan und Flo, mit denen ich abends zuvor schon zusammen in der Hütte beim Essen saß. Wir haben uns auf dem Weg nach oben gut unterhalten, wodurch uns der Aufstieg sehr kurzweilig erschien. Es war eine schöne, felsige, etwas abschüssige Passage, die in guter Steigung kontinuierlich zum Joch hinauf führte.

Es fühlt sich gut an, gleich am Morgen seinen Körper zu bewegen und seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Es hat etwas sehr Beruhigendes und Elementares, manchmal fast schon meditatives und man denkt einfach nur an den nächsten Schritt und die wunderschöne Umgebung um sich herum. Man verschwendet keine Gedanken an Existenzängste, Sorgen, Groll oder sonstige Versäumnisse. Man ist einfach nur seelenruhig und zufrieden mit sich selbst und genießt die warme Sonne und den frischen Wind auf der Haut und im Gesicht.

Links an der Flanke steigen wir langsam aber sicher zum Pitztaler Jöchl hinauf.

Ein Blick zurück zeigt die großen Gletscherfelder und Gletscherzungen, wie sie ins Tal hinein reichen und sich über Jahrmillionen durch den Fels bewegen und dabei erodieren. Im nächsten Winter ist hier wieder alles schneeweiß und meter hoch mit dem kalten Element bedeckt. Und so wiederholt sich dieser Prozess seit vielen Jahrtausenden, wesentlich länger als wir existieren und lange bevor es unsere verschwindend kleinen Sorgen bereits gab.

Vor etwa 135 Millionen Jahren, zu Beginn der Kreidezeit, startete der komplexe, mehrstufige Entstehungsprozess der Alpen. Vereinfacht beschrieben öffnete sich der Atlantik immer weiter, wodurch der afrikanische Kontinent die Adriatische Platte nordwärts immer weiter in Europa hinein bewegte. Diese Bewegung fand vor schätzungsweise 35 Millionen Jahren statt. Dadurch wurde diese wunderschöne Formation, die wir heute bestaunen dürfen, geformt. Der Prozess war vor etwa 5 Millionen Jahren weitestgehend abgeschlossen, hält aber bis heute weiterhin an, denn die Platten bewegen sich noch immer in diese Richtung, jedoch nicht mehr ganz so schnell.

Dort oben erwartete uns eine warme, goldene Morgensonne, die uns für diesen neuen, anstehenden Tag willkommen heißt.

Von hier oben quert man nochmal eine leicht ausgesetzte felsige Passage, bis man den höchsten Punkt erreicht.

Kurz vor diesem Joch treffe ich eine etwas ängstliche junge Frau, die sich ein wenig Sorgen wegen dieser Passage macht und sich mental auf diese Hürde vorbereitet. Ich spreche ihr Mut zu und erkläre ihr, dass die Dinge erfahrungsgemäß aus der Ferne immer schlimmer aussehen, als sie es letztendlich sind und dass es meistens unser Kopf ist, der das Hindernis viel schwieriger erscheinen lässt.

Meinen Rucksack und das schwere Gewicht? Spüre ich kaum noch. Ich freue mich nur auf diesen Aufstieg!

Es ist ein wenig Vorsicht geboten und man sollte sich konzentrieren, wenn man man hier entlang geht und nicht besonders trittsicher ist.

Und wer hätte es gedacht? Sie war am Ende dieses exponierten Abschnittes direkt hinter mir und hat die Passage problemlos gemeistert.

Manche stellen sind mit Ketten und Drahtseilen versichert, um mehr Sicherheit zu bieten.

Nur noch wenige Meter, dann ist der erste Anstieg für den heutigen Morgen geschafft.

Ich nehme euch natürlich wie immer die letzten Meter hinauf auf den Sattel mit, damit ihr ein wenig nachvollziehen könnt, wie sich das anfühlt!

Und hinüber über den Sattel! Ich bin gespannt, welcher Anblick uns dort erwartet!

Am höchsten Punkt angekommen, bietet sich mir ein merkwürdiger und bizarrer Anblick, als ich in das nächste Tal hinab schaue.

Ich erblicke einen nagelneuen, riesigen, betonierten und asphaltierten Komplex aus Straßen, Parkplätzen und einer gigantischen Liftanlage in der unwirklichen, felsigen und zum Teil noch vergletscherten Landschaft.

Und daneben trotzdem rauhe, wunderschöne und wilde Felsformationen.

Die Sonne hat an diesem Morgen eine ganz spezielle Farbe und kreiert damit eine unbeschreibliche Atmosphäre. Man merkt eindeutig, dass der Sommer vorbei ist und der Herbst vor der Tür steht!

Ein kurzer Blick zurück zur Braunschweiger Hütte und den kleinen "Teich" an dem ich genächtigt habe.

Und ewig ziehen die Wolken wunderschön über die Gipfel, während sie im Sonnenlicht stehend ihre Schatten hinab ins Tal werfen. Es wird nie langweilig und ich liebe jeden dieser Anblicke.

Wir befinden uns auf 2961m über dem Meeresspiegel an diesem Morgen. Übrigens habe ich erwähnt, dass diese Uhr einfach der absolute Wahnsinn ist?

Das ist wohl das Skigebiet Sölden am gleichnamigen Gletscher. Künstliche Auffangbecken und bizarr anmutende Wasserreservoire wurden hier durch ein Paradebeispiel von Geoforming geschaffen. Dazu mussten wohl Millionen Kubikmeter Material bewegt werden. Ich fahre natürlich auch gerne Ski, aber was für einen gigantischen Wahnsinn wir Menschen teilweise betreiben und somit unsere Natur, als auch die Umwelt nachhaltig schädigen, einfach nur um noch mehr Geld zu verdienen, ist für mich teilweise unbegreiflich. Nun denn, steigen wir mal hinunter zu diesem Gebilde. Direkt am Beginn des Abstiegs staut es sich an einer steilen, seilversicherten Passage, die für die meisten Überquerer nur mit dieser Hilfestellung und einzeln nacheinander überwunden werden kann.

Anschließend geht es noch im Gänsemarsch einige Höhenmeter hinab durch Fels und Geröll, bis wir schließlich an diesem merkwürdigen Bauwerk angelangt sind.


Von hier aus nimmt man üblicherweise kurz für fünf Minuten einen Linienbus, der durch einen langen Felstunnel hinüber zum anderen gigantischen Ski Komplex fährt.

Der Tunnel darf zu Fuß nicht durchquert werden. Alternativ kann man diese Passage, indem man oberhalb des Tunnels entlang des Seiterkars zum Seiter Jöchl wandert, überqueren.

Nach einem kurzen, nicht gerade ansehnlichen Aufstieg verlassen wir das Skigebiet und befinden uns auf der tollen und sehr langen Abstiegsroute hinunter ins Ötztal nach Vent.

Flo, Jan, Hannah, Nicklas und ich, als wir uns aufmachen das Skigebiet zu verlassen. Wir haben uns alle auf dieser Wanderung nun schon so oft getroffen und immer wieder Gespräche geführt und Gedanken miteinander ausgetauscht, dass fast schon eine gewisse Vertrautheit oder ein Gefühl von Gemeinschaft zwischen uns E5 Alpenüberquerern entstanden ist. Das ist wohl auch nur natürlich, wenn man fast eine Woche jeden Tag gemeinsam aufsteht, frühstückt die gleichen Anstrengungen und Entbehrungen teilt und abends beim Abendessen beisammen sitzt. Sich in den Waschräumen begegnet und man schlussendlich mehr oder weniger zur gleichen Zeit ins Bett geht.

Also steigen wir alle gemeinsam langsam aber sicher nach Vent hinab und erfreuen uns an gemeinsamen Gesprächen, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ideen. Nicklas fragt mich beispielsweise, was ich von Wanderstöcken halte, da ich bei dieser Wanderung Stöcke verwende und er selbst mit seinen Stöcken aber nicht wirklich zurechtkommt, bzw. keinen Mehrwert für sich darin fühlt, wenn er sie verwendet. Ich erzähle ihm, dass ich den Einsatz, je nach Situation durchaus sinnvoll finde, ich jedoch ein Fan davon bin, im Fels und mit leichtem Gepäck ohne Wanderstöcke zu laufen, um die eigene Balance, die Gelenke und die Sehnen zu trainieren. Es ist schlussendlich jedoch eine sehr situative und individuelle Entscheidung, die jeder selbst treffen muss.

Hannah, Nicklas und ich spielen während des Abstiegs ein lustiges Spiel oder eher gesagt ein Podcast Format, bei dem man extrem bizarre Fragen gestellt bekommt und jeder diese Fragen entsprechend seiner Meinung nach beantworten muss. Es hilft enorm dabei, sich gegenseitig besser kennenzulernen, den anderen zu verstehen, es ist extrem lustig und lässt den Abstieg sehr kurzweilig erscheinen. Wir hatten jedenfalls unseren Spaß dabei.

Nach einer Weile spüre ich ein riesiges Loch in meinem Bauch und merke, dass ich extrem hungrig bin. Glücklicherweise gab mir Jan noch zwei seiner Müsliriegel, denn ich hatte mittlerweile ziemlich großen Hunger und hatte einfach nichts mehr dabei. Ohne ihn hätte ich hungrig bis ins Tal hinab steigen müssen.

Es ist ein sehr schöner, ausgedehnter Abstieg mit vielen Windungen und gelegentlichen Aufstiegen, die dem Weg dadurch einen ganz speziellen Charakter verleihen und immer wieder einzigartige Anblicke bieten.

Ich spüre in mir den Drang, das Tempo zu erhöhen, da mir so der Abstieg meist leichter fällt und sich für mich persönlich angenehmer anfühlt. Ich zurre also den Rucksack fest an meinen Körper und schieße den Weg hinunter.